Freie Bahn für Groß-Berlin

Der „Verschönerungs-Verein Heiligensee-Süd“ und der Gemeinderat warben schon vor 1910 bei der „Großen Berliner Straßenbahn“ GBS für eine Verlängerung der Bahnstrecke von Tegel in ihre Ortsmitte. Damals waren sowohl Heiligensee als auch Tegel noch eigenständig. Die GBS war allerdings der Überzeugung, diese Verbindung wäre nicht rentabel. Also nahm die Gemeinde die Sache selbst in die Hand und beauftragte die AEG (Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft) mit dem Ausbau des Schienennetzes.

Bereits neun Monate später waren die Arbeiten abgeschlossen und die neue Verbindung konnte am 28. Mai 1913 durch eine Jungfernfahrt mit geladenen Gästen im blumengeschmückten Triebwagen feierlich eröffnet werden. Von Tegel aus wurden die Passagiere nun mit der einen Linie direkt nach Heiligensee und mit der zweiten über Konradshöhe nach Tegelort transportiert. Zu Hauptverkehrszeiten galt ein 30-Minuten-Takt, sonst kam die Bahn stündlich. Am Sonntag gab es nicht etwa weniger Züge, denn da verkehrte die „Elektrische“ sogar alle 20 Minuten. Das lag an den vielen Ausflüglern, die sich in den Lokalen am See vergnügten. Dank der zahlreichen zahlenden Fahrgäste konnte die Gemeinde die Kosten für den Bau spielend durch die Einnahmen begleichen. Gut sieben Jahre lang blieb die Strecke ein eigenständiges Unternehmen – bis zum 1. Oktober 1920, als durch die Gründung von Groß-Berlin die flächenmäßig zweitgrößte Stadt der Welt entstand und sich über Nacht die Einwohnerzahl der Hauptstadt nahezu verdoppelte. Im Zuge der Eingemeindung Reinickendorfs als zwölfter Stadtbezirk wurde die Straßenbahn Heiligensee Teil der GBS; die wiederum fusionierte am 13. Dezember desselben Jahres mit der SSB (Straßenbahnen der Stadt Berlin) und der von Siemens gegründeten BESTAG zur Bst (Berliner Straßenbahn).

In der Öffentlichkeit stieß dieser Zusammenschluss auf kein übermäßiges Interesse. Anstatt das Großprojekt zu kommentieren, berichtete die Presse am 13.12. lieber über den Wettlauf des „Berliner Berufsläufers Eich“ mit einem Straßenbahnwagen der Linie 3. „Trotz des rauhen Ostwindes und des Schneetreibens“ gewann Eich das Rennen auf der 20 Kilometer langen Strecke mit einem Vorsprung von 12 Minuten. Für die Fahrgäste in Heiligensee bedeutete die Fusion weniger Komfort, denn ihre bequemen Waggons wurden für den Einsatz in der Innenstadt mit alten zugigen Wagen ausgetauscht.

Durch die Wirtschaftskrise kam es 1923 zum Bankrott der Straßenbahn-Vertriebsgesellschaft. Am 9. September 1923 standen alle Straßenbahnen für einen Tag still. Über den folgenden ausgedünnten Fahrplan schimpften die Berliner aufgebracht. Der Einzelfahrschein kostete inflationsbedingt unvorstellbare 400.000 Mark und die Monatskarte für alle Linien 80 Millionen. Zehn Jahre zuvor war eine Fahrkarte noch für 20 Pfennig zu haben.

Die Straßenbahn blieb zwar ein wichtiger Faktor im Berliner Nahverkehr, aber mit der Verlängerung der U-Bahn nach Tegel 1958 wurden die Linien in Heiligensee durch Busse ersetzt. Heute erinnert an die alte Zeit noch das unter Denkmalschutz stehende Straßenbahndepot, das seit zehn Jahren ein Restaurant beherbergt. Zur 700-Jahr-Feier der Gemeinde Heiligensee 2008 erhielt das Depot noch einmal Besuch von einem historischen Triebwagen, der extra aus dem Straßenbahnmuseum Hannover herbeigeschafft wurde. bod

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.