Friedhofskapelle
Russischer Friedhof Foto: bod

Arzt ohne Grenzen und schillerndes Multitalent

Als Schiffsarzt war er auf dem Frachtschiff „Sultan“ nach Südamerika und Afrika unterwegs … Im Fernsehen trat er als Yogalehrer auf … Dazu betätigte er sich als Maler und Schriftsteller… Wegen seiner Verdienste in der Neurologie wurde er als „Vater der Hirnverletzten“ bezeichnet. Das 94-jährige Leben des Wladimir Lindenberg kann wahrlich als abenteuerlich bezeichnet werden, auch wenn es nach eigenen Angaben zunächst mit einer beschaulichen Kindheit auf dem ländlichen Familiensitz begann.

Vor 120 Jahren, am 16. Mai 1902, erblickte er in Moskau das Licht der Welt. Der erste Ehemann seiner Mutter, Alexander Tschelistschew, entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. Obwohl von Wladimir Lindenberg als Vater bezeichnet, gilt es heute als wahrscheinlicher, dass ihr zweiter Gatte, der Geschäftsmann Karl Lindenberg, sein Erzeuger war. Wladimir studierte zunächst Malerei in Moskau. Während der Oktoberrevolution wurde er inhaftiert, kam aber mit dem Leben davon und emigrierte nach Deutschland. Seine erste Station war Bonn, wo er Medizin und Psychologie studierte.

1930 ging er als Schiffsarzt auf große Reise. Zurück in Deutschland fing er als Assistent bei Walther Poppelreuter an. Der Neurologe erforschte Hirnverletzungen bei Soldaten des Ersten Weltkriegs. Poppelreuter begeisterte sich schon früh für die Nazi-Bewegung und baute noch vor der Machtergreifung Thesen aus „Mein Kampf“ in seine Vorlesungen ein, wozu ihm Hitler 1932 gratulierte. Lindenberg hingegen wurde ein Opfer des NS-Regimes: 1937 verurteilte man ihn zu vier Jahren Gefängnis nach Paragraph 175, der Homosexualität unter Strafe stellte. Nur durch Einwilligung in die Kastration entging er weiterer Haft im KZ.

Kurz nach Kriegsende arbeitete er vorübergehend als Arzt in Heiligensee in einem Behelfskrankenhaus. Im März 1947 heiratete er Dolina Gräfin von Roedern. Im gleichen Jahr wurde er Chefarzt im Spandauer Evangelischen Waldkrankenhaus. 1959 eröffnete er in seinem Haus in Heiligensee eine Praxis für Neurologie und Psychologie.

Lindenberg muss eine äußerst charismatische Persönlichkeit gewesen sein; seine Vorlesungen in der Urania für für ein Laienpublikum waren stets gut besucht. Auch unter seinen Lesern hatte er eine treue Anhängerschaft. Er verfasste aufbauende Bücher zur Lebenshilfe sowie stark autobiographisch gefärbte Literatur wie „Himmel in der Hölle: Wolodja als Arzt in unseliger Zeit“ oder „Bobik im Feuerofen: eine Jugend in der russischen Revolution“. Nicht nur seine Bilder und Schriften sind überliefert: Auch seine Stimme ist dank der Einlesung seiner Erzählungen aus dem Jahr 1973 auf Tonträger verewigt.

1981 überraschte Lindenberg drei Einbrecher in seinem Haus in Schulzendorf. Die Räuber schlugen ihn nieder und fesselten ihn. Die Täter wurden jedoch später gefasst und er bekam die gestohlenen Ikonen und weitere Bilder zurück.

Zum 85. Geburtstag präsentierte die Galerie im Fontane-Haus in einer Ausstellung die große Bandbreite des Künstlers – Aquarelle, Wandteppiche, Zeichnungen und Glasmalerei. Zwischenzeitlich verkündete er als einer der Sprecher „Das Wort zum Sonntag“ in der ARD.

Das Holzhaus in Schulzendorf wurde nach seinem Tod 1997 abgerissen; ein Großteil seines Nachlasses ging an das Museum Reinickendorf, wo bis heute eine Nachbildung des Arbeitszimmers dieses schillernden Multitalents zu besichtigen ist.

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Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.