Ein Grund(stein) zum Feiern

Wittenau – Größenwahnsinnig – das dachten in den Nachbargemeinden einige über das Bauprojekt. Doch die Amtsräume in der Schule im Eichborndamm 284 waren für das schnell wachsende Wittenau einfach zu klein geworden. Durch die sich rasch entwickelnde Industrialisierung des Ortes hatten sich die jährlichen Einnahmen und Ausgaben der Gemeinde ab 1903 innerhalb von fünf Jahren mehr als verzwanzigfacht. Dieses enorme Wachstum erforderte selbstverständlich eine deutlich größere Verwaltung.

Auch mit Blick auf die Nachbargemeinde Pankow mit ihrem repräsentativen Rathausbau von 1903 entschloss man sich in Wittenau für ein neues Gebäude und rief dafür einen Architekturwettbewerb aus. Der Gewinner war Fritz Beyer aus Schöneberg, nach dessen Entwurf 1929 auch die deutlich modernere heutige Victor-Gollancz-Grundschule‎ in Frohnau gebaut wurde. Ebenfalls aus Schöneberg stammte der Bildhauer Julius Wolff, der den Rathaus-Eingang gestaltete.

Die feierliche Grundsteinlegung fand im März 1910 in Anwesenheit des Bürgermeisters Paul Witte statt. Er war der Sohn von Peter Witte, dem langjährigen Gemeindevorsteher, zu dessen Gedenken Dalldorf 1905 in Wittenau umbenannt wurde. Ein gutes Jahr nach Baubeginn konnte am 13. Mai 1911 das Gebäude mit einem Festakt eröffnet werden. Noch vor der kompletten Fertigstellung fand bereits am 8. April die erste Hochzeit statt. Karl und Emma Otto wurden damit überrascht, als erstes Paar im Trauungsraum vom Standesbeamten vermählt zu werden. Heute ist bei Brautpaaren besonders das Witte-Zimmer mit dem schönen Erker und den bunten Scheiben beliebt, das damals das Büro des Bürgermeisters beherbergte.

Neun Jahre nach der Eröffnung wurde aus dem Rathaus Wittenau im Zuge der Entstehung Großberlins das Rathaus Reinickendorf, das nun für den gesamten neuen Bezirk zuständig war. Trotz des großen Verwaltungsapparats, der hier tätig war, wirkte die direkte Umgebung recht ländlich. Auf der so genannten Rathauswiese wurde noch bis in die 1960er Jahre Getreide angebaut.

Kurz vor Ende des zweiten Weltkriegs im April 1945 stand der Turm in Flammen. Das Gebäude wurde zwar nicht zerstört, aber das Dach war stark beschädigt. Durch das eindringende Regenwasser wurden die Innenräume arg in Mitleidenschaft gezogen. Provisorisch ersetzte man die fehlenden Ziegel durch Blechplatten – hergestellt aus amerikanischen Trockenkartoffelkanistern.

Nachdem sich die russische Kommandantur für einige Monate ins Rathaus einquartiert hatte, übernahm Frankreich im August 1945 Reinickendorf als Besatzungsmacht. Im Herbst 1985 wurde der französische Staatspräsident François Mitterrand bei seinem Berlinbesuch im Sitzungssaal empfangen und verewigte sich im Goldenen Buch.

Vor 70 Jahren, im September 1950, gab es in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter erneut eine festliche Grundsteinlegung zur notwendig gewordenen Erweiterung des Rathauses. Nach ihm wurde später auch der über 700 Plätze fassende Veranstaltungssaal benannt. Architektonisch gilt der Anbau im schlichten Stil der Fünfzigerjahre als sehr gelungen.

Das Rathaus aus anderer Perspektive

Andrea Becker