Quarantäne und Gewaltspirale

Berlin/Bezirk – Viele Menschen sind derzeit im Homeoffice oder können nicht arbeiten, die Betreuung von Kindern muss zu Hause realisiert werden. Zunehmende familiäre Konflikte sind zu erwarten. Beratungsstellen rechnen infolge der Corona-Krise mit mehr häuslicher und sexualisierter Gewalt. Aktuelle Berichte von Hilfsorganisationen und Polizei aus Wuhan in China während der Corona-Krise bestätigen einen erheblichen Anstieg an Fällen von häuslicher Gewalt und Hilfeanfragen.

Aber schon vor der Corona Krise war der Zugang zu Frauenhäusern oder zeitnaher Beratung in einer Beratungsstelle schwierig.

Laut Berliner Kriminalstatistik aus dem Jahr 2018 gab es 15.665 Opfer häuslicher Gewalt. Vor dem Internationalen Frauentag am 8. März diskutierten die Angehörigen des Berliner Abgeordnetenhaus über einen Aktionsplan gegen Gewalt an Frauen. Die Reinickendorfer Wahlkreisabgeordnete Emine Demirbüken-Wegner unterstrich, dass Gewalt gegen Frauen durch nichts zu entschuldigen sei. „Diese Haltung muss uns alle einen. Das gilt auch für die häusliche Gewalt, die nach wie vor den größten Raum einnimmt.“ Das Thema Gewalt gegen Frauen gehöre stärker in die Öffentlichkeit, hob die CDU-Politikerin hervor und bezeichnete die Istanbul-Konvention als einen „Meilenstein“. Das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, kurz die „Istanbul-Konvention“, ist in Deutschland im Februar 2018 in Kraft getreten. Damit liegt erstmals für den europäischen Raum ein völkerrechtlich bindendes Instrument zur umfassenden Bekämpfung jeglicher Form von Gewalt an Frauen vor.

Die Unterzeichnung der Konvention sei ein wichtiger Schritt und für den Berliner Senat mehr als nur ein „Lippenbekenntnis“, sagt Marie Moritz, Leiterin des Beratungs-, Kommunikations- und Lernzentrum Flotte Lotte e.V. im Märkischen Viertel. „Der Senat will die Zahl der Plätze in Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen aufstocken.“ In diesem und im kommenden Jahr sollen zu den bestehenden 301 Frauenhausplätzen 70 weitere hinzukommen. Zu den derzeitig 45 Zufluchtswohnungen mit knapp 300 Plätzen für Frauen und Kinder sind weitere geplant. Konkret sind für 2020 und 2021 13 weitere Schutzplätze vorgesehen.

Drei solcher Zufluchtswohnungen für insgesamt vier Frauen mit und ohne Kinder stellt Flotte Lotte e.V. zur Verfügung. Im Bezirk nimmt der Verein hier eine Alleinstellung ein. Betroffene Frauen erhalten über die Flotte Lotte ein Zimmer beziehungsweise eine Wohnung für sich. „Die Nachfrage übersteigt bei Weitem das Angebot“, bedauert Moritz. „Wir haben täglich Anfragen. 99 Prozent der Anfragen müssen wir weiterleiten.“

Im Durchschnitt bleiben die Frauen zwischen fünf und sechs Monaten in den Schutzwohnungen. „Das ist in Ordnung“, sagt Marie Moritz, „die Frauen brauchen ja auch erst einmal die Zeit, um sich ‚runterzuregeln‘ und um weiterplanen zu können.“ Während dieser Zeit ist eine Sozialarbeiterin für die Frauen und gegebenenfalls auch für deren Kinder da. Die Miete für die Wohnungen zahlen die schutzsuchenden Frauen. Mit ihnen wird ein Untermietvertrag geschlossen. „Leben die Frauen zu lange in den Wohnungen, wird es für sie schwieriger, sich etwas Neues zu suchen. Die Schutzwohnung wird immer vertrauter. Aber sie kann und soll nur eine Zwischenlösung sein“, so Marie Moritz. Bei der anschließenden Wohnungssuche hilft Hestia e.V. Neben einem Frauenhaus und Zufluchtswohnungen unterhält der Verein eine Wohnungsvermittlung.

Diese Art der Wohnungsvermittlung ist einzigartig in Berlin. Hestia e.V. ist Vertragspartner im „Geschützten Marktsegment“. Dieses ist ein Kooperationsvertrag zwischen dem Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin, den öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften und bezirklichen Stellen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit. „In Berlin sind die Wohnungen insgesamt knapp“, sagt Moritz, „dementsprechend schwer ist es auch, eine Wohnung im „Geschützten Segment“ zu finden.“ Außerdem würden Wohnungsunternehmen Wohnraum anbieten, der auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt nur sehr schwer vermittelbar sei. „Die Wohnungen sind nicht saniert, da fehlen Waschbecken oder sie liegen im Hinterhaus im Parterre, da können Frauen mit kleineren Kindern nicht hin vermittelt werden.“ Marie Moritz hofft, dass der Senat seine Versprechen hält und dass im Hinblick auf das „Geschützte Marktsegment“ die Kooperationsbereitschaft der Wohnungsunternehmen wächst.

ajö

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.