RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Der Nettelbeckplatz im Wedding bekommt einen neuen Namen.. Foto: bod

Die Demaskierung eines einstigen Volkshelden 

Umbenennung des Nettelbeckplatzes ist beschlossene Sache

Wer noch einmal über den Nettelbeckplatz schlendern will, wenn er noch diesen Namen trägt, muss es bald tun, denn der wird demnächt umgetauft. 1817 erwarb die Stadt Berlin das Vorwerk Wedding, ein Landgut, das sich zuvor im Besitz der preußischen Könige befunden hatte, und verkaufte es in den folgenden zehn Jahren parzellenweise an Handwerksbetriebe und Kleingärtner. Das Gutshaus (Vorwerk) lag ungefähr dort, wo Pankstraße und Reinickendorfer Straße aufeinanderstoßen. 

In den Plänen zur Gestaltung der Straßenführung wurde das Areal zunächst nur schlicht als Platz M verzeichnet, bis es vor 140 Jahren nach Joachim Nettelbeck benannt wurde. Der ehemalige Seefahrer wurde erst im Alter bekannt – als Anführer der Bürgerschaft von Kolberg bei der Belagerung der Stadt von 1807 durch die Armee Napoleons. Trotz der Übermacht der französischen Streitkräfte konnte sich das damals zu Preußen gehörende, heute polnische Kołobrzeg gegen den Feind behaupten. Der Schulterschluss von Armee und Bürgerschaft wurde zu einem deutschen Mythos und blieb es bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs. Zu seinem Image als Volksheld trugen sicherlich auch seine launig geschriebenen Erinnerungen bei, die zuerst in der Zeitung als Fortsetzungsgeschichte erschienen, bevor sie schließlich als Buch veröffentlicht wurden.

Der Verleger erklärt im Vorwort, Nettelbeck sei noch im hohen Alter Vater einer Tochter geworden, „deren künftiges Geschick ihm zärtlich am Herzen liegt.“ Daher beabsichtigte er „eine Handschrift zu hinterlassen, deren dereinstige Verbreitung durch den Druck vielleicht ein kleines Kapital zum Brautschatz für ein geliebtes Kind vermitteln könnte.“ In den Memoiren sollte der Tonfall so originalgetreu wie möglich beibehalten werden, „um den Eindruck seiner Originalität in nichts zu verkümmern“.

„Am 20. September 1738 ward ich zu Colberg geboren“, stellt sich der Autor darin vor: „Aber sobald ich habe lallen können, stand auch mein Sinn darauf, ein Schiffer zu werden.“

Mit elf nahm ihn der Onkel auf seinem Schiff „Susanna“ mit nach Amsterdam. Nettelbeck erzählt, wie er dort ausbüchste, um auf einem der großen Schiffe anzuheuern, die dort im Hafen lagen. Seiner Hartnäckigkeit war es zu verdanken, dass er schließlich trotz seiner jungen Jahre auf große Fahrt mitgenommen wurde. Der Brief an den ahnungslosen Onkel kam nie an, weshalb seine Familie zwei knappe Jahre lang irrtümlich glaubte, ihr Sohn sei ertrunken. Nettelbeck diente sich zum Kapitän empor und machte ein kleines Vermögen, indem er rege am Handel mit Waren und Sklaven teilnahm. Durch Schiffbruch geriet er an den Rand des Ruins. Im Alter ließ er sich schließlich in seiner Heimatstadt nieder, wo er eine Brauerei und Schnapsbrennerei betrieb. Erst mit 69 Jahren wurde er durch seine Rolle bei der historischen Belagerung über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt. Endgültig zu einer Kunstfigur wurde er um die März-Revolution herum – über zwanzig Jahre nach seinem Tod am 29. Januar 1824 im Alter von 85 Jahren. Der Schriftsteller Paul Heyse machte ihn in seinem Drama „Colberg“von 1865 sogar zu einem Bühnenhelden.  Der Literaturnobelpreisträger zeichnet das Bild eines mitunter etwas kauzigen, aber allseits respektierten Bürgers, der seinen Nachbarn väterlich mit Rat und Tat zur Seite steht: „Mir altem Seehund kann es besser scheinen, mehr Mensch zu sein und weniger Soldat.“ Diesen Satz sagt Nettelbeck im Stück zu August Gneisenau, der auch im realen Kolberg durch die Ablösung seines zögerlichen Vorgängers für neue Hoffnung sorgte. Bereits in seiner Autobiographie äußerte Nettelbeck seine unverhohlene Bewunderung für den späteren Generalfeldmarschall: „Ich fiel vor unserem neuen Schutzgeist in Rührung nieder.“

In seinem Drama stilisierte Heyse das Verhältnis der beiden zum Vorbild für eine harmonische Allianz von Zivilgesellschaft und Militär zum Wohle des Vaterlands – wenngleich er dabei auch ironische Momente voll gutmütigem Spott einbaute: „Er ist verschossen in den Kommandanten, den Gneisenau. Er denkt und spricht nichts mehr, als Gneisenau.“ Einen Höhepunkt des Dramas stellt Nettelbecks schüchterne Bitte um eine brüderliche Umarmung dar, auf die Gneisenau gerührt erwidert: „ Komm an mein Herz, mein Alter! Daß du das von mir begehrst, das tuht mir wohl.“ Und beseelt von dieser Geste entgegnet der alte Seebär: „Mein Bruder, mein Sohn! Ja nun kann ich in Frieden fahren, Da ich dies Heldenherz an meins gedrückt.“ Beim Publikum kam das patriotische Schauspiel mit seinen sentimentalen Einlagen offenbar gut an. Vor der Reichsgründung 1871 war ein geeintes Deutschland noch mit großen Hoffnungen auf eine Demokratisierung verbunden, daher war das Stück in Preußen zeitweise verboten. Später, als es zu den erfolgreichsten Theaterstücken jener Zeit gehörte und sogar zur Schullektüre wurde, stand vor allem die Verherrlichung des Heldenmuts im Vordergrund.

1943, als die militärischen Erfolge des Dritten Reichs langsam ausblieben, sah NS-Propagandaminister Goebbels darin den idealen Stoff für einen der sogenannten „Durchhaltefilme“. Der Regisseur Veit Harlan, der sich schon mit „Jud Süß“ kompromisslos in den Dienst der Nazi-Ideologie gestellte hatte, sollte nun mit „Kolberg“ ein gigantisches Monumentalwerk schaffen, für das weder Mühen noch Kosten gescheut wurden. Zehntausend Uniformen wurden extra angefertigt und 6.000 Pferde bereit gestellt. Für das Spektakel standen mehr Soldaten zur Verfügung, als an der tatsächlichen Schlacht um Kolberg teilgenommen hatten.

Veit Harlan erklärte, sein Film solle zwar Gneisenau, Nettelbeck und den Bürgern Kolbergs ein Denkmal setzen, „doch vor allem ein Denkmal dafür werden, wie die Deutschen heute sind“.

Der Film wurde jedoch viel zu spät fertig, um überhaupt noch die geringste Wirkung zu erzielen. Denn das Land lag schon in Schutt und Asche, als der Streifen Ende Januar 1945 Premiere feierte. Während der ebenfalls aufwendig in Farbe gedrehte „Münchhausen“ die wenigen Kinosäle füllte, die noch nicht zerstört oder beschädigt worden waren, spürte das Publikum kaum Lust auf Kriegsgeschehen auf der Leinwand.

In der Kritik steht Nettelbeck heute jedoch vor allem wegen seiner Verstrickung in die Sklaverei: Er hat nicht nur während seiner Zeit als Seefahrer Geld mit Menschenhandel verdient, sondern war auch bestrebt, den preußischen König vom Nutzen einer südamerikanischen Kolonie zu überzeugen. Genau genommen unternahm er bei drei Königen den vergeblichen Versuch, bis ihm Gneisenau höflich erklärte, Kolonien gehörten nicht zum System Preußens, um die Abhängigkeit von Seemächten zu vermeiden. In seiner Autobiographie geht Nettelbeck zwar bereits auf Distanz zu seiner ursprünglichen Haltung, weil sich die öffentliche Ansicht darüber inzwischen gewandelt hatte, allerdings ist seinen Äußerungen kein Zeichen von Reue zu entnehmen: „‚Wie?‘ wird vielleicht mancher fragen; ‚Nettelbeck ein Sklavenhändler? Wie kommt ein so verrufenes Handwerk mit seinem ehrlichen pommerschen Herzen zusammen?‘ – Allein dies Handwerk stand zu damaliger Zeit bei weitem nicht in einem solchen Verrufe. Erst seitdem man, besonders in England, wider den Sklavenhandel als einen Schandfleck der Menschheit geschrieben und im Parlament gesprochen hat, ist das der Fall.“

Er bezieht sich hier vor allem auf den Slave Trade Act von 1807, der mit großer Mehrheit im Parlament beschlossen wurde, allerdings nicht in allen Teilen des Empires galt. Dennoch stellte er einen wichtigen Schritt dar, dem die Seefahrernationen Portugal, Spanien und die Niederlande einige Jahre später folgten. Das englische Gesetz verbot zunächst nur den Menschenhandel, aber änderte nichts an den noch bestehenden „Besitzverhältnissen“. Erst ab 1833 wurde ein deutlich strikteres Verbot der Sklaverei beschlossen, für das aber in einigen entfernten Kolonien wie zum Beispiel Ceylon weiterhin Ausnahmen geschaffen wurden.

Nettelbeck behauptet zunächst, den Wandel zu begrüßen: „Und wenn dieser Handel nun entweder ganz abgekommen ist oder doch mit heilsamer Einschränkung getrieben wird, so ist der alte Nettelbeck gewiss nicht der Letzte, der seine herzliche Freude darüber hat. Vor fünfzig Jahren aber war und galt dieser böse Menschenhandel als ein Gewerbe wie andere, ohne daß man viel über seine Recht- und Unrechtmäßigkeit grübelte.“

So gibt er vor: „Barbarische Grausamkeit war damit nicht verbunden und fand auch wohl nur in einzelnen Fällen statt. Ich wenigstens habe nie dazu geraten oder geholfen.“ Wenige Absätze später widerspricht er sich allerdings: „Man wird leicht begreifen, daß es bei solchen Raubzügen an Grausamkeit nicht fehlt.“ Und schiebt die Verantwortung auf die prekären Zustände in den armen Ländern, und scheint so die skrupellosen Profiteure dieses Elends zu entlasten: „Es geschieht, daß der Mann sein Weib, der Vater sein Kind und der Bruder den Bruder auf den Sklavenmarkt zum Verkauf schleppt.“

Im Juni 2021 fasste die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin-Mitte den Beschluss zur Umbenennung des Nettelbeck-Platzes. Maren Goll vom Büro für Bürger*innenbeteiligung erklärt, ein Gremium werde drei Favoriten aus 500 eingegangenen Vorschlägen herausfiltern und zur Abstimmung stellen. Da die Häuser postalisch der Gerichtsstraße zugeordnet sind, muss sich somit niemand an eine neue Adresse gewöhnen.


Den Brunnen im Zentrum des Platzes hat die in Tschechien geborene und aufgewachsene Bildhauerin Ludmila Seefried Matějková gestaltet. „Tanz auf dem Vulkan“ ist der Titel der Skulptur, die durch die Tanzenden und den sie begleitenden Klavierspieler gute Laune verbreitet. Um in dem freundlich dreinblickenden Pianisten einen Satyr zu erkennen, muss sein Pferdefuß beachtet werden. Satyre sind jene Mischwesen der griechischen Mythologie, die den Menschen Musik und Weinbau brachten. Die vordergründige Fröhlichkeit dient in den Augen der Künstlerin zum Überspielen des desolaten Zustands der Welt: Die Feiernden „wollen die Gefahr nicht wahrhaben“.

Ihr Abitur machte Matějková am musischen Gymnasium in Prag; ein Hochschulstudium blieb ihr aus politischen Gründen verwehrt. Stattdessen machte sie zunächst ein Steinmetzpraktikum und fand eine Anstellung bei einer Porzellanfabrik. In Berlin studierte sie schließlich an der Hochschule für Bildende Künste. In Kreuzberg sind weitere Arbeiten von ihr im öffentlichen Raum zu sehen – etwa zwei Gedenktafeln, eine für den SPD-Politiker Ernst Heilmann und eine weitere für den Schriftsteller Carl von Ossietzky. Markant ist ihr Doppelgängeradmiral Statue in der Admiralsstaße.


Der Architekt Günther Fischer gewann 1979 einen Wettbewerb, der den Platz für Fußgänger attraktiver machen sollte. Erst durch eine Umleitung der Reinickendorfer Straße 1985 bekam der Platz seine heutige Form. Vor zwanzig Jahren sorgte die Landschaftsarchitektin Barbara Willecke für mehr Sitzgelegenheiten. Auf der Website der Architektenkammer Berlin heißt es zur Verteilung der Bänke auf dem Platz: „Die größere Auswahl von Sitzmöglichkeiten soll die Nutzung zugleich intensivieren und entflechten und so Konflikte zwischen Nutzergruppen verhindern.“ 2002 erfuhr der Platz verkehrspolitisch ein Aufwertung durch die Wiedereröffnung der S-Bahnstation Wedding, die seit 1980 geschlossen war.

Boris Dammer