RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Ein düster wirkendes altes Gebäude
Früher Schauplatz der NS-Euthanasie, heute Gedenkort: Das Haus am Eichborndamm 238. Foto: ks

„Kinder waren ihre Beute“

Gedenken an NS-Opfer vom Wiesengrund am Eichborndamm

Wittenau – Viele Reinickendorfer kennen ihr Rathaus am Eichborndamm. Doch nicht alle dürften das eher unscheinbare Gebäude gegenüber und dessen Vergangenheit kennen. Das Haus mit der Nummer Eichborndamm 238 ist ein früherer Schauplatz von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Hier werden in der Zeit von 1941 bis 1945 im Namen der nationalsozialistischen Rassenpolitik Kinder mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen behandelt, mehr als hundert von ihnen qualvoll ermordet. „Wiesengrund“ nennt sich seinerzeit, idyllisch verklärt, die Fachabteilung der Städtischen Nervenklinik.

Heute ist es ein Gedenkort mit Geschichtslabor, das unter dem Betrieb des Museums Reinickendorf fungiert und agiert. Seit nunmehr fünf Jahren findet jährlich eine Gedenkveranstaltung für die so genannten „Reichsausschusskinder“ statt. Auch der Bezirksstadtrat für Schule, Bildung, Kultur, Sport und Facilitymanagement, Harald Muschner, lässt es sich am 15. November dieses Jahres nicht nehmen, das Gedenken wach zu halten. Er zitiert in seiner Eröffnungsrede Johann Wolfgang von Goethe: „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“. Man wolle bewusst daran erinnern, dass jedes Leben zähle, so der oberste Bildungsbeauftragte Reinickendorfs. „Es ist ein Ort, an dem es schwer fällt, Worte zu finden. Ein Ort, an dem grausame Versuche an Kindern unter dem Deckmantel der Wissenschaft durchgeführt wurden“, ergänzt Dr. Sabine Ziegenrücker, Leiterin des Fachbereichs Kunst und Geschichte beim Bezirksamt.

Projektleiterin Imke Küster bietet monatliche Führungen an. Foto: ks

Jedes Jahr steht zum Gedenken an alle Opfer ein Schicksal im Vordergrund. Diesmal ist es Werner H. Der Familienname ist bewusst anonymisiert, aber bekannt. Seine Patientenakte ist – wie auch jene der anderen betroffenen Kinder – im Landearchiv Berlin, Eichborndamm, überliefert. Werner, 1937 unter schwierigen Umständen geboren, ist gerade einmal fünf Jahre alt, als er wegen motorischen Störungen von einer Kinderärztin der Charité in die Fachabteilung überwiesen wird. Er ruft oft „Mama, Mama“, hat Heimweh. Doch dies interessiert die Untersuchenden wenig. Werner H. überlebt die Behandlung nicht.

Seit 2012 existieren Schülerprojekte am authentischen Ort des Geschehens. Nun hat sich eine zehnte Klasse des Thomas-Mann-Gymnasiums mit dem viel zu kurzen Leben von Werner H. beschäftigt. „Hoffen, Helfen, Heilung?“, so das Motto, welches sein Ergebnis in fünf dargebotenen Sprechgesängen hat. „Die Ärzte waren nicht wie heute, Kinder waren ihre Beute“, so lautet eine Rap-Textzeile. „Hitler an der Macht, Vater in der Schlacht – die Mutter denkt an ihn Tag und Nacht“, heißt es in einem anderen Song.

Weitere Erinnerungsarbeit findet regelmäßig statt. So gibt es monatliche Führungen, Workshops, Putzaktionen für Stolpersteine oder Patenschaften. „Wir versuchen den Ort durch unsere Bildungsanagebote lebendig zu halten“, will Claudia Wasow-Kania, Verantwortliche des Patenschaftsprogramms „Mein liebes Kind“, auch in Zukunft das Vergessen nicht zulassen.

Karsten Schmidt

Schon in jungen Jahren hat sich Karsten Schmidt journalistisch engagiert: für Schülerzeitungen und Studentenmagazine. Seit rund 30 Jahren ist er freiberuflich tätig – als bekennender Nordberliner von der ersten Stunde an beim RAZ Verlag dabei, außerdem als Berliner Korrespondent für mehrere Fachzeitschriften aus den Bereichen Mode, Wirtschaft und Gastronomie.