Naturwein, ehrlicher Wein, lebendiger Wein – es gibt viele Bezeichnungen für einen Trend, der jetzt auch den Berliner Norden erreicht hat. In der ehemaligen Branntweinfabrik in der Provinzstraße wird jetzt Wein ohne Zusatzstoffe hergestellt.
Industrieweine vs. Naturweine
Neulich kursierte ein Witz: „Sommelier gibt zu: In Wahrheit schmecken alle Weine gleich“. Der eigentliche Witz ist, dass dies kein Ulk ist, sondern eine weitgehend zutreffende Beschreibung. Denn die meisten Weine im Supermarkt sind sogenannte Industrieweine, bei denen nach zahlreichen Korrekturen und Verschönerungen (so die Weinsprache) tatsächlich die besondere Note durch Jahrgang, Hang und Ernte auf der Strecke bleibt. Aber es gibt eine Gegenbewegung – der sogenannte Naturwein. Diese Bewegung erreicht jetzt den Bezirk Reinickendorf. In der ehemaligen Fabrik der Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (BfB) in der Provinzstraße hat das Start-up Nature‘s Calling eine Weinkellerei eingerichtet.
Eine Weinkellerei mitten in Berlin
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Bild: Nature’s Calling
Die Endung „ei“ im Begriff Weinkellerei zeigt an, dass der Wein nicht bloß wie in einem Weinkeller gelagert wird. In einer Kellerei wird Wein auch hergestellt. Das heißt in diesem Fall, dass die Trauben vom Winzer geliefert und in der Provinzstraße 44 gepresst, in Fässern vergoren und beim Reifen überwacht werden. Und weil es eine gläserne Kellerei werden soll, dürfen die Kunden diesen Ort auch kennenlernen. „Im Frühjahr wollen wir eine große Eröffnung feiern“, sagt Louisa Müller. Sie ist eine der drei Gründer von Nature‘s Calling. Mitgründer sind die beiden 35-jährigen Nicolas Wenz und Sven Grolik. Unternehmensstart war im Jahr 2021. Im vergangenen Herbst ist das Unternehmen in die Fabrikhalle auf dem Monopolgelände gezogen. Zwei Etagen nutzen die Gründer im alten Hauptgebäude der Fabrik. Hier wollen sie nicht nur Naturwein produzieren, sondern auch Events organisieren. Verkostungen zum Beispiel. „Wir wollen den Menschen den gesamten Prozess der Weinproduktion näherbringen“, sagt Nicolas Wenz.
Naturwein als besondere Alternative
Denn wer in Berlin weiß schon, wie Wein eigentlich hergestellt wird? Berlin ist keine Weinanbauregion. Nur wenige kennen einen, der einen kennt, der mit einfachen oder mit industriellen Methoden aus Trauben Wein macht. Und Weinkellereien – auf Englisch Winery – sind in Berlin rar. Zwar gibt es zahlreiche Weinhandlungen, von denen einige auch einen Weinkeller für Kunden öffnen. Doch eine Weinproduktion mit Tag der offenen Tür ist in der Hauptstadt die Ausnahme. Noch seltener sind Orte, an denen in Berlin Naturwein hergestellt wird.
Was macht Naturwein so besonders?
Manch einer mag an dieser Stelle denken: Was soll es mit dem Begriff Naturwein auf sich haben, ist nicht jeder Wein ein Naturprodukt? Doch tatsächlich ist es nicht so einfach, seinen Freunden reinen Wein einzuschenken. Das ist keine Anspielung auf den Glykolskandal vom Sommer 1985. Denn die Liste der erlaubten Zusatz- und Hilfsstoffe bei der Weinherstellung ist lang. Mit ihnen gelingt es, aus jeder Traube in jeder Verfassung einen möglichst immer gleich schmeckenden Wein herzustellen. So, wie ihn die Kunden erwarten. So darf Wein zum Beispiel mit Erbsenprotein in Berührung kommen, um Schwebeteilchen herauszufiltern.
Handlese statt Maschinen
Aber von vorn bei der Beantwortung der Frage, was Naturwein ist. „Naturwein beginnt auf dem Weinberg“, sagt Winzer Hannes Bergdoll. Er ist Freund und Geschäftspartner von Nature‘s Calling und kommt regelmäßig nach Berlin. Er hilft den drei Gründern mit Trauben, mit Wissen und mit Erfahrung. Auf seinem Weinberg arbeitet er mit Handlese statt mit Maschinen, die blind jede Traube vom Rebstock holen. Er verzichtet auf Chemiedünger. Und in der Produktion in Berlin? Auch hier unterscheidet sich Naturwein von Industriewein. Spontangärung statt Zugabe von Hefen. Keine Filtration, sodass naturtrüber Wein entsteht. Verzicht auf Verschönerung mit Enzymen und Verzicht auf Zusatzstoffe.
Eine alte Tradition neu entdeckt
Was vielleicht utopisch oder unmöglich klingt, ist in Wahrheit eine Rückbesinnung auf eine alte, vergessene Tradition. So schlossen sich am 26. November 1910 vier Regionalvereine namhafter Naturweinversteigerer zum Verband Deutscher Naturweinversteigerer zusammen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stand der Begriff Deutscher Naturwein weltweit für höchste Qualität. Bis zum Weingesetz von 1969/71. Seitdem gibt es „Qualitätsweine mit Prädikat“. Was gut klingt, ist in Wirklichkeit eine Arbeitserleichterung für Großproduzenten. Die heutige Naturwein-Bewegung will nun zurück zur Manufaktur, zu kleineren Mengen und zu individuelleren Produkten.
Naturwein erleben in Reinickendorf
Mehr Details und Hintergründe hat der Verein Naturknall. Das ist ein Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den ehrlichen, den lebendigen, den natürlichen Wein bekannter zu machen. Wer sich die Sache mit dem Naturwein mit eigenen Augen ansehen möchte, der wartet auf die Einladung zur großen Eröffnung von Nature‘s Calling in der historischen Monopolfabrik.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Beitrag aus dem neuen RAZ Magazin (Ausgabe 01/25).
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