RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Pfarrer und mehrere Menschen
Pfarrer Andreas Hertel (r.) und Amtsarzt Patrick Larscheid mit den Musizierenden in der Kirche Foto: bs

Der einsame Tod

Hermsdorf – Ordnungsbehördliche Bestattungen werden „vom zuständigen Gesundheitsamt organisiert, wenn Angehörige von Verstorbenen nicht vorhanden sind oder ermittelt werden können, keine Vorsorge zur Bestattung getroffen wurde und kein anderer für die Bestattung sorgt.“

So formuliert das Bezirksamt Reinickendorf in einer Pressemitteilung zu diesem traurigen Thema. Vergangenes Jahr wurden 226 Menschen in Reinickendorf auf diese Art unter die Erde gebracht. 2020 waren es in ganz Berlin 2.454. Pfarrer Andreas Hertel und Amtsarzt Patrick Larscheid trauerten zum 4. Mal am dritten Sonntag im Januar in einem Gedenkgottesdient der evangelischen Kirche von Hermsdorf diesen einsam Verstorbenen nach.

Larscheid skizziert einzelne Schicksale. Das Leben der Frau, deren Namen nicht gesagt wird, war wie aus einem schlechten Film. Mit 18 Jahren geheiratet, schnell wieder geschieden. In Schleswig-Holstein gestrandet, nach Berlin übergesiedelt. Dort von einer Drogenentwöhnung zur nächsten. Auf der Straße gelebt, keine Ausbildung gemacht, nie richtig gearbeitet. Mit 41 an Demenz erkrankt, mit 48 stirbt sie allein in einer Klinik. „Existent, aber nie von jemandem zur Kenntnis genommen.“ Nach der ordnungsbehördlichen Bestattung werden tatsächlich die Eltern gefunden. Sie bezahlen die vom Staat vorgestreckte Summe für die Beerdigung anstandslos. Larscheid fasst vor den 34 Besuchern der Kirche zusammen: „Ein Leben im Schatten.“

Die Gottesdienstbesucher begrüßt das von einem Projektor an die Wand geworfene Bild eines neugeborenen Babys. Die Fäustchen sind in die Höhe gehoben. Es liegt auf weißem Leinen. Der Blick ist ebenso fragend wie durchdringend. Er begleitet die ganze Trauerstunde. Larscheid weist auf das Bild und sagt: „Wir freuen uns über ein Baby, aber lass es 80 Jahre alt sein, sterben, allein. Dann sieht es meist anders aus mit unserer Sympathie“.

Vor vier Jahren fingen Hertel und Larscheid als erste in Berlin mit einem jährlichen Gedenkgottesdienst für die Vergessenen an. Larscheid ärgerte sich damals über die Antwort des Senats auf eine Anfrage, warum es – anders als in anderen Städten – solche Gottesdienste hier nicht gäbe. Die Einlassungen waren seitenlang und hatten nur das Ziel aufzuzeigen, warum es partout nicht ginge. Dann haben Hertel und Larscheid es „einfach gemacht“. Heute haben sie Nachahmer in etlichen Bezirken der Stadt.

Der Pfarrer und der Amtsarzt lesen, unterbrochen nur von kurzen Musikeinlagen, abwechselnd die Namen der 226 Verstorbenen in sonorer Stimmlage vor: Thorsten Grant, Peter Gottschalk, Heinz Kussmann, Margot Nitsche, Klaus Rick, Doris Schmidt, Lutz Weidener, Peter Hoppe. Fast nur deutsche Namen und ein Doktortitel sind dabei. Auffallend auch, dass zwei Drittel der Genannten Männer sind. Hertel gibt nach dem Gottesdienst im Gespräch zu bedenken, dass „Frauen eher noch in sozialen Gefügen“ leben.

In Berlin werden fast alle ordnungsbehördlich Bestatteten auf dem alten Domfriedhof in Mitte in einem schlichten Urnengrab beigesetzt, „weil es dort am billigsten ist“. Larscheid und Hertel haben durchgesetzt, dass „Reinickendorfer in Reinickendorf“ begraben werden. Sie haben so lange verhandelt, bis es auf dem St.-Sebastian Friedhof nicht teurer als in Mitte war.

Larscheid erinnert auch an die Mitarbeiter in seinem Gesundheitsamt, die sich um die traurigen Schicksale kümmern müssen. Das sei „keine einfache verwaltungstechnische Aufgabe.“ Die Geschichten von den einsam Gestorbenen könnten nicht „wegverwaltet werden.“

Zum Schluss betet Pfarrer Hertel für die Verstorbenen und steht versunken vor dem großen Holzkreuz mit der Inschrift: „Herr erbarme dich.“bs

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.