„Und es geschieht jetzt – jüdisches Leben nach dem 7. Oktober“ heißt das neueste Buch des Reinickendorfer Schriftstellers Marko Martin, dass er in der Humboldt-Bibliothek vorstellte – im Gespräch mit dem Schriftsteller-Kollegen Norbert Kron.
Angriff auf jüdisches Leben
Der massivste Angriff auf jüdisches Leben nach dem Völkermord der Nationalsozialisten ist jetzt mehr als ein Jahr her und doch immer wieder gegenwärtig – im ehemaligen Land der Täter aber nicht als Fanal, dass Antisemitismus nie wieder sein darf, sondern als geradezu perverse Opfer-Täter-Umkehr, in der dem Staat Israel Völkermord auf Demonstrationen und in akademischen Diskussionen vorgeworfen wird. Marko Martin ist diesem Phänomen nachgegangen. Auf vielen Reisen hat er Israel kennen gelernt. Für das aktuelle Buch hat er aber auch von zu Hause aus zahlreiche Gespräche geführt, mit Menschen in und aus Israel.
Jüdisches Leben in Deutschland
Da ist die gebürtige Israelin, die mit ihrem deutschen Mann in Berlin lebt und sich wundert, dass nach dem 7. Oktober 2023 niemand ihrer Nachbarn sich nach ihrem Befinden erkundigt. Als sie angesichts der Hamas-Terrorzeichen an deutschen Wohnhäusern darum bittet, auf Fragen nach jüdischen Nachbarn nicht zu antworten, trifft sie auf Unverständnis: „Nun mach‘ Dich mal nicht verrückt.“ Erst langsam begreifen die Angesprochenen, was sich tatsächlich abgespielt hat, und welche noch immer vorhandenen Vernichtungswünsche gegen alles, was jüdisch ist, auch auf deutschen Straßen vorhanden ist.
Israel im Fokus der Kritik
Und leider auch in Hörsälen, in denen die bloße Existenz Israels als Kolonialismus diffamiert wird. Dort wird der Gaza-Streifen gerne als Getto bezeichnet, dessen Einwohner sich nur gegen die israelischen Besatzer wehrten. Dabei hatte sich Israel 2005 von dort komplett zurückgezogen. In das Machtvakuum drang die Hamas ein. Sie brachte die als korrupt geltenden Funktionäre der PLO des 2004 verstorbenen Jassir Arafat um und nahm ihre Stellung ein. Wer von den PLO-Leuten fliehen konnte, floh nach Israel.
Hamas und internationale Fördergelder
Riesige Fördersummen der Weltgemeinschaft steckte die Hamas nicht in den wirtschaftlichen Aufschwung des Gaza-Streifens, sondern in das berüchtigte Tunnelsystem – inklusive von Waffenlagern und anderen militärischen Einrichtungen unter Schulen und Krankenhäusern – schon damals eine Reihe von Kriegsverbrechen der Hamas, die aber niemand richtig benannte. Wer es heute tut, muss mit unflätigen Beschimpfungen rechnen. Marko Martin hat es am eigenen Leibe erfahren, von Menschen, die er einst sehr geschätzt hat. So will er auch nicht spekulieren, wie es im Nahen Osten weitergehen könnte. Er setzt auf den hebräischen Begriff des Tikkun Olam, ein Jahrtausende altes Gebot der „Reparatur der Welt“. Das ist nicht das Schlagwort, das alle überzeugt, sondern die erste mögliche Hilfe – zum Beispiel die Unterkunft der Kibbuz-Bewohner, deren Häuser zerstört wurden, Spenden an Kleidung und Nahrung, und auch manchmal nur das Zuhören.
Die Biografie des Autors
Die Sensibilität, mit der sich Marko Martin dem Thema nähert, mag auch an seiner Biografie liegen. 1970 in Mittelsachsen geboren, durfte er in der DDR als Kriegsdienstverweigerer nicht studieren, und verließ die SED-Diktatur noch vor deren Ende. Er studierte an der Freien Universität Berlin Germanistik, Politikwissenschaft und Geschichte bei so unterschiedlichen Professoren wie der aktuellen Vorsitzenden der Grundwertekommission der SPD, Gesine Schwan, und dem konservativen Arnulf Baring. Nach einem längeren Paris-Aufenthalt wohnt er seit 1997 nahe am Schäfersee in Reinickendorf. Dort genießt er die Grünanlage, in der er gerne läuft, wenn er nach einer seiner vielen Reisen mal wieder in Berlin ist.
Reinickendorf bleibt Heimat
Dabei nimmt er auch wahr, dass sich der Kiez eher negativ entwickelt, mit Drogenhandel, Obdachlosigkeit und Vermüllung. Manchmal wünscht er sich konsequenteres Einschreiten von Ordnungsamt und Polizei. Allerdings: Ein Grund zum Wegziehen ist das für ihn noch lange nicht.
Christian Schindler
Marko Martin: Und es geschieht jetzt – Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober, Tropen Verlag,
Stuttgart, 224 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-608-50255-8