Welche Religion ist denn nun die richtige? Gibt es den einzig wahren Schöpfer? Oder hat nicht jeder Glaube seine Daseinsberechtigung? Schon der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing nahm sich dieses Themas an. In seinem Werk „Nathan der Weise“ ist die Ringparabel als Symbol für die Toleranz gegenüber anderen Weltreligionen zu verstehen.
Am 19. Januar wird der Weltreligionstag begangen; auch „Tag der Religionen” genannt. Dass Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich nebeneinander leben können, beweist der Bezirk Reinickendorf. Hier befinden sich neben christlichen Kirchen auch buddhistische Klöster, Moscheen und eine Hindu-Gemeinde.
Von Christentum zu Konfuzianismus
Als Religion wird eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Phänomene bezeichnet, die menschliches Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen prägen und Wertvorstellungen normativ beeinflussen. Die weltweit größten Religionen sind: Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus, Daoismus, Judentum und Konfuzianismus. Von den rund 3,5 Millionen Einwohner in Berlin gehören etwa 1,2 Millionen offiziell einer Glaubensgemeinschaft an. Die Religion mit den meisten Anhängern in Berlin ist das Christentum mit rund 27 Prozent. Etwa 950.000 Berliner sind Christen. 584.731 von ihnen sind evangelisch und 331.431 katholisch. 12.000 gehören der serbisch-orthodoxen Kirche an, 15.000 der russisch-orthodoxen und 12.319 der neuapostolischen Kirche.
Insgesamt gibt es 404 Kirchen in der Stadt: 295 evangelische, 106 katholische und drei russisch-orthodoxe.
Besondere Kirchen und Einrichtungen
In Reinickendorf sind verschiedene Kirchen und religiöse Einrichtungen von Besonderheit. Dazu gehört der russisch-orthodoxe Friedhof mit seiner St.-Konstantin-und-Helena-Kirche an der Wittestraße. Als er im Jahr 1894 eingeweiht wurde, befand er sich inmitten von Feldern und Gehöften.
Damit die russischen Verstorbenen gemäß der orthodoxen Tradition auch in heimatlicher Erde beigesetzt werden konnten, wurden dafür auf Anweisung von Kaiser Alexander III. eigens 4.000 Tonnen Erde aus 50 Regionen Russlands in Eisenbahnzügen nach Tegel gebracht, und das Friedhofsgebiet wurde fünf Zentimeter dick mit dieser Erde bedeckt.
Rund sieben Kilometer weiter nördlich: Der Kopf ist kahlgeschoren, die orangefarbene Robe hüllt sich um den buddhistischen Mönch – ein bunter Farbtupfer im regenverhangenen Frohnau. Seit das Buddhistische Haus am Edelhofdamm 54 erbaut wurde, gehören auch Mönche zum Bild des Ortsteils.
Mit dem Bau des Buddhistischen Hauses 1923 und 1924 hat sich der Arzt Paul Dahlke einen großen Traum erfüllt. Er hatte auf seinen Asienreisen den Buddhismus kennengelernt und wurde selbst zu einem ergebenen Theravada-Buddhisten. Hier war er nicht nur Arzt, sondern hielt auch Vorträge über den Buddhismus. 1957 erwarb Asoka Weeraratna, der damalige Sekretär der German Dharmaduta Society in Colombo, das Gebäude und das Außengelände. Die ersten buddhistischen Mönche wurden nach Berlin geschickt und Dahlkes Wunsch wahr: Die buddhistische Lehre wurde in Frohnau nicht bloß vorgetragen, sondern auch gelebt. Heute ist das Buddhistische Haus ein offenes Haus für alle Menschen; regelmäßig finden Vorträge und Meditationen statt (siehe unser Interview).
Auch zwei Moscheen befinden sich in Reinickendorf: In der Finsterwalder Straße 4 hat sich 2017 die Medina-Moschee unter dem Namen Kulturzentrum Wittenau etabliert. Die Koca Sinan Camii-Moschee, die zum Ditib-Verband gehört, befindet sich in der Pankower Allee 45.
Interreligiöser Dialog
Als in der Adventszeit 2014 die erste Begegnung von christlichen, muslimischen und einer hinduistischen Religionsgemeinschaft in Reinickendorf-Ost auf Initiative des Wahlkreisabgeordneten Burkard Dregger stattfand, entstand daraus der Interreligiöse Dialog. Seitdem werden in den Gemeinden regelmäßig Treffen organisiert, bei denen Angehörige der Gemeinden zusammenkommen, sich austauschen und ein besseres Verständnis füreinander entwickeln können. Der gemeinsame Dialog baut Berührungsängste, Grenzen und Barrieren ab und zielt auf Zusammenarbeit.
„Ich habe den Interreligiösen Dialog Reinickendorf-Ost 2014 ins Leben gerufen, um einen Beitrag zum inneren Zusammenhalt unseres Landes zu leisten“, erklärt Burkard Dregger, MdA und Vorsitzender der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus. „Der Ton in unserem Lande wird rauer. Die Aggressivität nimmt zu. Die Menschen nehmen sich immer mehr als Randgruppen wahr und immer weniger als Teil einer Nation“, sagt er. Doch der interreligiöse Dialog bewirke, „dass sich die Religionsgemeinschaften über ihre Grenzen hinaus öffnen, füreinander und für Außenstehende, dass sie Verbindendes entdecken und etwaige Vorbehalte abbauen.“
Durch den Dialog werden neue Brücken zwischen Menschen und den Religionsgemeinschaften im Kiez geschlagen. Menschen bauen Ängste und Vorurteile ab und stärken den nachbarschaftlichen Zusammenhalt. Außerdem fördern sie die Zusammenarbeit zwischen den Religionsgemeinschaften und setzen ein klares Zeichen für ein tolerantes, friedliches und demokratisches Miteinander.
Seit Dezember 2014 findet der Dialog vierteljährlich statt, und es nehmen die Katholische Kirchengemeinde St. Marien, die Ev. Luther-Kirchengemeinde Alt-Reinickendorf, die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde (Baptisten), die Evangeliumskirchengemeinde Berlin-Reinickendorf, die Hindu-Gemeinde für Vaisnava-Kultur aus der Kopenhagener Straße 34, das Kulturzentrum der Afghanen in Berlin e.V. an der Friedrich-Wilhelm-Straße 79 und die Koca Sinan Moschee daran teil. Er steht allen Bürgern offen.
Positive Entwicklung
Für Karin Hiller-Ewers, Vorsitzende des Integrationsausschusses, integrationspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion in der Reinickendorfer BVV und Gründungs- und Vorstandsmitglied des Netzwerkes „Willkommen in Reinickendorf“ ist die Frage nach den Religionen und der Toleranz unterschiedlicher Glaubensrichtungen eng mit der Diskussion über Flüchtlinge und Asylsuchende verknüpft. „Bei meinem Engagement für die Integration hat die Religion nie im Vordergrund gestanden, sondern immer der Mensch, unabhängig von seiner Herkunft oder an welchen Gott er glaubt“, erklärt sie. Hiller-Ewers wird von verschiedenen Kirchengemeinden, Moscheen und Trägern von Flüchtlingseinrichtungen zu Festen oder Veranstaltungen eingeladen. „Vor diesem Hintergrund würde ich meinen: Ja, die Toleranz der Bürgerinnen und Bürger wächst. Ich kann das nur an den steigenden Besucherzahlen und den konstruktiven Diskussionsbeiträgen festmachen. Gemeinsame Gottesdienste wie der Evangeliumskirchengemeinde und der Koca Sinan Moschee waren außerordentlich gut besucht. Beim gemeinsamen Fastenbrechen auf dem Letteplatz sind die unterschiedlichsten Religionsgemeinschaften sowie Bürgerinnen und Bürger vertreten. Spenden aus Gemeindekollekten verschiedener evangelischer und katholischer Kirchengemeinden an das Netzwerk „Willkommen in Reinickendorf“ zur Unterstützung der Flüchtlingsarbeit zeugen ebenfalls von einer hohen Toleranz.“
Ein Wegbereiter für die Toleranz gegenüber anderen Kulturen und Religion im Bezirk sei für sie Andreas Höhne, der verstorbene Stadtrat für Integration, der „mit Engagement und Leidenschaft für ein friedliches Zusammenleben und Toleranz geworben und gekämpft hat“. Auch sein Nachfolger Uwe Brockhausen setze sich als Stadtrat mit dem ehemaligen Integrationsbeauftragten Oliver Rabitsch und der jetzigen Beuaftragten Julia Stadtfeld für ein Miteinander ein.
Das alles täusche aber nicht darüber hinweg, dass insbesondere in den sozialen Medien nach wie vor gegen Menschen anderen Glaubens, seien es Muslime oder Juden, gehetzt oder zu Gewalttaten aufgerufen wird. Und was noch schwerer wiege, sei die wachsende Zahl der Anschläge gegen Kirchen, Moscheen und Synagogen. „In Reinickendorf brannte 2018 die Koca Sinan Moschee. Die Täter wurden meines Wissens bis heute nicht ermittelt“, sagt Hille-Ewers. „Angriffe auf Menschen und Gotteshäuser, egal welcher Glaubensrichtung, verletzen nicht nur die betroffenen Menschen, sondern uns alle“, erklärt sie.
„Eine Gesellschaft in der Menschen aller Religionen ihren Glauben nicht mehr ohne Angst leben können, hat versagt. Daher meine Bitte an alle: Lasst nicht zu, dass unsere Gesellschaft sich spaltet, lasst nicht zu, dass die Religionen gegeneinander ausgespielt und verunglimpft werden. Geht mit gutem Beispiel voran, damit wir gemeinsam in Frieden und Toleranz leben können.
Christiane Flechtner