Bezirk – Die Entscheidung fiel, nachdem alle drei Söhne der Familie Ghazy in lebensbedrohliche Situationen gerieten und sie befürchten mussten, vom Militär eingezogen zu werden: Ghazys beschlossen, die Flucht aus Syrien nach Europa zu wagen. Im Flüchtlingssommer 2015 kamen zunächst die beiden älteren Söhne, Ameer und Shabel, damals 23 und 20 Jahre alt, über die sogenannte Balkanroute, drei Monate später folgte ihre Mutter Theres zusammen mit dem jüngsten Sohn Roper, damals 17, über das Mittelmeer. Als Letzter stieß Vater Sami Ghazy zur Familie.
Sie landeten in Deutschland. Und hatten Glück: Die Kirchengemeinden Maria-Gnaden in Hermsdorf und Christkönig in Lübars erklärten sich bereit, eine zeitweilig nicht mehr genutzte Pfarrerswohnung und eine frühere Gemeindewohnung zur Verfügung zu stellen. Seit fünf Jahren lebt die Familie nun im nördlichen Reinickendorf, alle sprechen gut deutsch und meistern ihren Alltag: „Seit gut einem Jahr sogar ohne Hartz IV“, wie Sami Ghazy, der in Syrien in seinem Dorf auch Bürgermeister war, nicht ohne Stolz betont.
Der 57-Jährige ist Elektroingenieur und arbeitet jetzt als Elektrofachmann bei einer Zeitarbeitsfirma, seine Frau Theres hilft in einer evangelischen Kita in Wedding in der Küche mit, Ameer absolviert ein duales BWL-Studium, als ehrenamtlicher Betreuer einer Jugendgruppe hat er in einer Kirchengemeinde seine Freundin kennengelernt. Sein Bruder Shabel arbeitet als Möbelpacker und träumt von einem eigenen Tatoo-Studio und Roper, der Jüngste, macht eine Ausbildung als Mechantroniker bei einem großen deutschen Automobilkonzern, in seiner Freizeit engagiert er sich ehrenamtlich für Obdachlose. Während die beiden ältesten Sohne ihre eigene Wohnung haben, wohnen Eltern und Roper weiter in der Lübarser Gemeindewohnung.
Die Familie ist unendlich dankbar für die Chance, in Deutschland ein Leben ohne Krieg, Leid und ständiger Gefahr führen zu können. Doch der Schmerz über die Folgen des Kriegs sitzt tief: Sami trauert um fünf verstorbene Verwandte und Theres vor allem um ihren Bruder, der in einem Gefecht gefallen ist. Wenn die 53-Jährige davon erzählt, kann sie die Tränen nicht zurückhalten. Vor allem über Soziale Medien haben sie ständigen Kontakt zu Familie und Freunden in ihrer Heimat.
Eine Rückkehr ist für sie im Moment ausgeschlossen: „Der Krieg ist nicht vorbei und zur Zeit werden die Lebensmittel in Syrien zunehmend teurer. Wir befürchten, dass Hungersnöte ausbrechen“, erzählt Roper. Er und seine Brüder sehen ihre Zukunft in Deutschland (besonders Ameer, der in wenigen Tagen heiratet,) auch die Eltern fühlen sich – trotz gelegentlichem Heimweh – wohl und wollen gerne in der Nähe ihrer Söhne bleiben. Wegen ihrer guten Integration sind die Aussichten auf ein dauerhaftes Asyl gut.
Sorgen bereiten vor allem Roper nur offene Anpöbelungen im Alltag: „Ich werde schon mal beleidigt und wurde angespuckt“, erzählt er. In Clubs sei er abgewiesen worden, weil Syrer nicht erwünscht seien. Die Familie weiß, dass sich wegen ihrer Herkunft auch die Wohnungssuche schwierig gestaltet. Spätestens zum nächsten Winter wollen sie ihre jetzige die Wohnung gerne der Gemeinde zurückgeben, denn sie war nur als Übergangslösung gedacht.
Moritz Hohmann