Hermsdorf – „Häuser reden nicht, sondern man muss sie zum Reden bringen“. Es geht um das Haus im Falkentaler Steig 16, und der Satz wurde ausgesprochen von Eckhard Riecke, einem Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine Reinickendorf. So unscheinbar das ehemalige Wohnhaus, das auch als Jüdisches Kinderheim und Synagoge diente, auch heute im Sonnenlicht aussieht, so haben sich hier doch extreme Schicksale abgespielt: Denn nicht nur das Ehepaar Isidor und Ida Arndt wurde 1942 von hier nach Theresienstadt deportiert und ermordet, sondern auch die Eheleute Paul und Selma Latte sowie die Familie Broh, denen das gleiche Schicksal widerfuhr.
Am Nachmittag des 16. August reichte der Bürgersteig kaum aus, all die Menschen aufzunehmen, die zur Verlegung des Stolpersteins gekommen waren. Mehr als 100.000 Stolpersteine wurden bereits in Deutschland und in weiteren 30 europäischen Ländern verlegt, und sie gelten als das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Doch wohl noch nie war die Verlegung eines Stolpersteins ein so fröhlicher Anlass wie an diesem Sommertag.
Ein Leben im Schatten der Geschichte: Harry Gabriels Kindheit und Jugend
Schließlich war Harry nicht, wie zuvor angenommen, seit 1942 tot, sondern er konnte fliehen, entkam der geplanten Ermordung und lebte noch viele Jahrzehnte ein glückliches Leben in Israel, hatte Frau und Kinder und starb erst 2009 im Alter von 82 Jahren. Und so waren zu diesem Ereignis auch Harrys Sohn Uri und Harrys Enkelin Ofri eigens aus Israel angereist. Außerdem war der Schweizer Autor Gabriel Heim vor Ort, der die wahre Geschichte durch zahlreiche Recherchen herausfand.
Waisenhaus und Pflegefamilie
Harry Gabriel kam am 6. Dezember 1927 als zweites Kind von Charlotte Gabriel im Virchow Krankenhaus im Wedding zur Welt. Charlotte blieb unverheiratet, der Vater von Harry unbekannt. Er war offenbar nicht jüdisch, sodass Harry nach nazistischer Terminologie als „Mischling“ bezeichnet wurde. Harry kam ins Waisenhaus und wurde um 1930 als Pflegekind bei Eliese und Willy Redlich aufgenommen. Letzterer arbeitete in der Hermsdorfer Synagoge im Falkentaler Steig 16 als Hausmeister und hatte eine angrenzende Wohnung, in der die Familie mit Harry lebte. Mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung von Juden seit 1933 begannen auch die Zwangsmaßnahmen gegen die Gabriels, Diskriminierungen und die soziale Ausgrenzung.
Deporation vom Güterbahnhof Moabit
Kurz darauf ist Harrys Name in der Transportliste des 20. Osttransports erfasst. Der Zug kam aus Frankfurt am Main und verließ am 26. September 1942 den Güterbahnhof Moabit. Insgesamt wurden 1.043 Menschen in Richtung Raasiku bei Reval, dem heutigen Tallinn, deportiert. „Es war noch nicht einmal ein Vernichtungslager, sondern die Leute, die dort ausgeladen wurden, wurden sofort in einem Steinbruch erschossen“, erklärt Eckard Riecke. Lange Zeit galt Harry Gabriel als einer der Opfer des Transportes, von dem man bisher annahm, dass nur 25 Personen die Deportation überlebten. Und so verlegte bereits am 27. März 2010 der Künstler Gunter Demnig einen Stolperstein für Harry Gabriel.
Doch spätere Recherchen förderten zutage, dass Harry Gabriel die Flucht aus dem Zug gelang und er die Zeit des Nationalsozialismus überlebte. Dies war für die AG Stolpersteine Reinickendorf im Einverständnis mit Gunter Demnig der Anlass, den alten Stolperstein gegen einen mit aktualisierter Inschrift auszutauschen.
Flucht zurück nach Berlin und dann in die Schweiz
Den Stein ins Rollen brachte der Schweizer Autor Gabriel Heim, der in seinem Buch „Diesseits der Grenze, Lebensgeschichten aus den Akten der Fremdenpolizei“ auch über das Leben von Harry Gabriel recherchierte. „Es war der auch mein Name, der mir bei der Recherche im Archiv der Fremdenpolizei in Basel ins Auge stach – und so forschte ich weiter und fand heraus, dass Harry zwar deportiert wurde, jedoch aus dem Zug fliehen konnte“, erklärt er.
Eckard Riecke schilderte die Flucht: „Mit einigen anderen Jugendlichen hat er den Boden des Waggons aufgebrochen und ist getürmt. Als 14-Jähriger – er wusste nicht, wo er war – lief er zu Fuß zurück nach Berlin.“ Dort habe er sich zuerst bei Freunden versteckt und dann in der Wohnung seiner Pflegeeltern. Nachts habe er im angrenzenden Wald geschlafen. Doch es sei zu kalt geworden, und die Gefahr, entdeckt zu werden, zu groß. So hätten ihm seine Pflegeeltern ihr letztes Geld für eine Bahnfahrkarte zusammengelegt – und so gelang ihm die Flucht in die Schweiz. Dort wurde er am 14. November verhaftet. „Er wusste nicht, dass seine Mutter und Schwester am 29. November gemeinsam nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden“, fügt Riecke hinzu.
Harry wurde in der Schweiz in verschiedene Heime gesteckt und ist jedes Mal wieder abgehauen. Doch als der Krieg zu Ende war, wurde er nach Deutschland abgeschoben. 17. Januar 1946 kam er mit dem Schiff in Israel an, ging in ein Kibbuz und lernte dort seine Frau kennen. Die Familie lebte mit ihren drei Kindern Daniel, Ruth und Uri im Süden Israels.
Die Wahrheit kommt ans Licht
Der jüngste Sohn Uri wusste nichts von der erschreckenden Vergangenheit seines Vaters: „Er hat mit uns nie über diese Dinge gesprochen, war immer ein sehr fröhlicher und glücklicher Mensch“, sagt er. Und so kamen die Dinge erst nach und nach zutage, als Autor Gabriel Heim ihn in Israel kontaktierte. Uri erfuhr von der schrecklichen Vergangenheit seines Vaters und dessen Pflegeeltern ebenso wie von der Deportation seiner Großmutter und Tante. „Wir haben die Gedenkstätte meiner Großmutter und Tante heute besucht, was sehr emotional und wichtig war“, sagt er. Schließlich seien es seine Wurzeln, über die er nun mehr und mehr erfahren konnte.
Die Erinnerung bewahren: Ein neuer Stolperstein
Und der Austausch des Stolpersteins war nun ein weiterer Anlass, an die Gräueltaten zu erinnern. „Heute ist es ganz egal, wer in diesem Haus lebt. Doch von 1933 bis 1945 war es nicht egal, denn die Nationalsozialisten waren der Meinung, dass nicht alle Menschen gleich sind. Dass es Fremde gibt, die hier nicht hergehören – Menschen, die wegmüssen“, sagte Riecke. „Und wir können dem nur entgegensetzen, indem wir sagen: Alle Menschen sind gleich – egal wie sie sind. Und alle haben dieselben Rechte, und die Demokratie ist die Staatsform, die am menschenwürdigsten ist. Doch wenn wir herumschauen, ist das bei vielen Leuten nicht anerkannt. Wir sehen die Zahlen der AFD, wie sie in die Höhe schießen – das sind allerdings die Leute, die Unterschiede machen und der Meinung sind: Fremde gehören hier nicht hin. Das erleben wir auch in Polen und anderen Ländern. Genau aus diesem Grund dürfen wir nie aufhören zu kämpfen, dass sich so etwas nicht wiederholt und das die Dinge ein gutes Ende auch für uns nehmen“, fügte er abschließend hinzu.
fle