Ein schmaler Gang, rechts und links Doppelbetten. Alle 16 Betten sind belegt mit Frauen und Männern. Es riecht nicht gut. Es ist 11 Uhr vormittags. Hennadii Schevchennio liegt vollständig angezogen auf seinem Bett und schaut auf sein Handy. Die Hälfte seines Bettes ist vollgestellt mit großen Plastiktüten, in denen er seine Privatsachen aufbewahrt. An der Wand hängen seine Jacken. Es ist nicht viel Platz zum Liegen. Schevchennio ist gesprächsbereit und gibt sein Alter mit 54 Jahren an. Er sei im vergangenen Dezember aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. Seitdem lebe er im Ankunftszentrum Tegel.
Das zentrale Flutlicht im Giebel der Leichtbauhallen geht morgens um 6 Uhr an und abends um 22 Uhr aus. Lampen am Bett sind nicht angebracht. Schevchennio sagt, er sei viel allein. Von 13 bis 17 Uhr habe er vier Mal in der Woche Deutschunterricht. Er vermisse seinen Bruder, der in Baden-Württemberg sei. Er darf nicht zu ihm und der Bruder nicht nach Tegel. Schevchennio ist einer von 3.639 aus der Ukraine Geflüchteten in dieser Zeltstadt mitten auf dem ehemaligen Flughafen Tegel. Hinzukommen 1.038 Asylsuchende aus anderen Ländern.
Tegel: Deutschlands größtes Ankunftszentrum
Damit ist Tegel das größte Ankunftszentrum in Deutschland. Es wurde im März 2022 eröffnet. Sieben Personen leben seitdem ununterbrochen hier. Eigentlich, so informiert Sascha Langenbach, sei diese Einrichtung darauf ausgerichtet worden, Geflüchtete zur Registrierung aufzunehmen und nach zwei bis drei Tagen an andere Unterkünfte weiterzuleiten. Langenbach ist Pressesprecher des Landesamtes für Flüchtlingsangelegenheiten und beschönigt nichts. Langenbach würde Tegel heute schließen, um den Menschen bessere Wohnstätten zu bieten. Die gebe es aber nicht. Deswegen wächst die Zeltstadt immer weiter.
Zwischen Verantwortung und Empathie
Langenbach kennt sich in dem Ankunftszentrum aus. Viele Umarmungen mit Sicherheitskräften, die an allen Ecken stehen. Aber auch Begrüßungsküsschen rechts und links für geflüchtete Frauen, die sich mit Fragen an ihn wenden. Er habe vor zweieinhalb Jahren angefangen, Russisch zu lernen und habe hier viel Praxis. Eine Frau möchte nicht nach Spandau, sondern nach Köpenick. Da solle es so schöne Wohnungen geben. Langenbach kann ihr da keine großen Hoffnungen machen. Auf die Frage, ob es ihr hier denn so schlecht gehe, antwortet sie: „Verglichen mit dem, was in der Ukraine abgeht, bin ich dankbar, dass ich hier sein darf.“ Aber das Essen sei schlecht und ihrer Gesundheit nicht bekömmlich. Wenn sie wieder gesund sei, würde sie zur Arbeit zurückkehren. In einer Abwaschküche eines Restaurants habe sie einen Job.
„Ob wir das schaffen, weiß keiner“
Jeden Tag melden sich neue Geflüchtete in Tegel. Ganz vorn im Wartebereich sitzen sie mit großen Taschen. In der zweiten Oktoberwoche sind 250 Menschen gekommen. Allerdings konnten fast alle weiterverwiesen werden auf andere Einrichtungen in Berlin. Nur drei seien in Tegel geblieben. Noch hat Tegel 1.947 verfügbare Plätze. An eine Erweiterung wird aber schon gedacht. Eigentlich sollte die Einrichtung Ende 2025 geschlossen werden. Langenbach: „Ob wir das schaffen, weiß keiner.“
Viele kranke und behinderte Menschen
Eine alleinstehende, geflüchtete Person aus der Ukraine bekommt in Deutschland 563 Euro Bürgergeld monatlich. Davon muss sie 180 Euro für Unterkunft und Verpflegung in Tegel bezahlen. Nicht alle können sich für Jobs bewerben. In Tegel sind viele Kranke und Behinderte. Im Eingangsbereich schleust ein Enkel seine Großmutter Nadiia, 78 Jahre alt, durch die Aufnahmeprozedur. Sie sei gerade angekommen, er lebe bereits seit zwei Jahren in Deutschland und arbeite in einer Firma. Seine Großmutter will er auf keinen Fall hierlassen. Er werde sie mitnehmen. Von einem Bekannten habe er gehört, dass es in Tegel „wirklich schrecklich“ sei. Das streitet auch Langenbach nicht ab: „Es ist schon erstaunlich, wie lange Menschen das aushalten“.
Transparenz trotz Herausforderungen
Das Interesse an dem Ankunftszentrum ist groß. An diesem Tag führt er neben dem RAZ Reporter zwei Journalistinnen aus Spanien von El Pais und eine Reporterin von Radio Free Europe aus Armenien durch. Er macht keine großen Einschränkungen. Gespräche dürfen geführt werden, wenn die Angesprochenen einverstanden sind. Eine Übersetzerin vom Russischen ins Deutsche oder Englische ist zugegen. Auch Fotos dürfen bei Einverständnis aufgenommen werden. Nur keine Sicherheits- und Polizeikräfte. In einem Spiegel-Artikel sei er beschuldigt worden, die Freiheit der Berichterstattung einzuschränken. Er sei dazwischen gegangen, als das Reporterteam eine 88-jährige Frau zum Weinen gebracht habe. Er sei schließlich auch ausgebildeter Krisenseelsorger. Es ist nicht einfach, die Würde der hier Lebenden stets zu wahren.