„Den Nagel geradeklopfen und wiederverwenden“

Durch die Gründung Groß-Berlins am 1. Oktober 1920 wurde die Stadt mit vier Millionen Einwohnern zur Weltmetropole, zur drittgrößten Stadt der Welt hinter London und New York. Die Hauptausstellung des Museums Reinickendorf zeigt bis zum 25. Oktober die Entwicklung des Bezirkes von den dörflichen Strukturen zu urbanen Lebensräumen. Während die wohlhabende Stadt Spandau protestierte („Es schütze uns des Kaisers Hand vor Groß-Berlin und Zweckverband“), war die Eingemeindung in Reinickendorf problemlos.

Im Ortsteil Dohnlake, angrenzend an die Hermsdorfer Fließtalwiesen, ließ der Ankerwickler Paul Schulze 1920 auf 1.618 Quadratmetern Grundstück ein 72 Quadratmeter kleines Haus errichten. Die deutsche Hyperinflationsphase 1923 sowie die Weltwirtschaftskrise nach dem „schwarzen Freitag“ am 25. Oktober 1929 zwangen ihn allerdings zum Verkauf seines Häuschens. Die sparsame Familie Müller aus Birkenwerder konnte das Grundstück am 12. Januar 1939 „zum angemessenen Kaufpreis von 7.200 Reichsmark“ erwerben, obwohl „weder Gas- noch elektrischer Kabelanschluss, keine Toilette und kein Bad vorhanden sind, seit mehreren Jahren nichts gemacht worden ist und seitens des Käufers noch mehrere Reichsmark hereingesteckt werden müssen.“

Das fleißige Finanzbuchhalter-Ehepaar Else und Eugen mit Söhnchen Friedrich wollte das mit viel Eigenleistung stemmen und stellte im August 1939 den Bauantrag für den „Anbau einer Veranda mit Bad und einer Garage mit Stallungen“. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 wurde der Bauantrag wegen Einsparung von Baustoffen abgelehnt. Trotzdem wurde schnell angebaut, denn die Familie erweiterte sich um die Zwillinge Gernot und Eugen jun.

Während Vater Eugen als Zahlmeister die Pferde in Griechenland verwaltete, stemmte Mutter Else das deutsche Kriegs- und Nachkriegsschicksal. Trotz Bombenangriff, vier Requirierungen, Evakuierung, Besatzung, schwerer Krankheit, Lebensmittelnot, Ackerbau und Viehzucht (Ziegen, Hühner und Kaninchen im Wohnzimmer) schaffte sie es, den Söhnen in aller Not glückliche Kindheitserinnerungen zu schaffen.

In den vergangenen 80 Jahren war das Haus nicht nur ein Spiegel der deutschen und der Weltgeschichte, sondern wurde mehrfach an- und umgebaut. Friedrich zog 1960 in ein eigenes Haus, Gernot 1966. Vater Eugen verstarb 1968, Mutter Else 1982. Eugen jun. war immer der rote Faden in der Haus-Biografie mit seinen wechselnden Bewohnern. Er kann hundert spannende Geschichten erzählen, unter anderem mit Raketenversuch nach Wernher von Braun und vielen baulichen Verbesserungen.

Auch die jetzigen Bewohner kennen keinen Stillstand und möchten die Idee der Nachhaltigkeit mit Verstärkung der Lebensqualität praktizieren – durch Anpassung an die gestiegenen technischen Möglichkeiten, zum Beispiel Solar-Energie. Das seit früher Kindheit von den Eltern vorgelebte Motto „den Nagel geradeklopfen und wiederverwenden“, das Eugen in vielen Expeditionen zu Naturvölkern bestätigt fand, hat heute immer noch Gültigkeit: Im Angesicht der Wasserbüffel in der Nach­barschaft achtsamer Umgang mit den Ressourcen unserer Umwelt.kbm

Das Haus am Fließ sah früher so aus. Foto: Archiv

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.