RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Mann vor einer Hausfassade
Norbert Raeder vor dem Kastanienwäldchen (Foto: fle)

Kündigung aus heiterem Himmel

Schock für Norbert Raeder und seine Gäste: Kastanienwäldchen musste schließen

Reinickendorf – Wenn die Räume sprechen könnten, hätten sie sicher viel zu erzählen … Wie sie durch Live-Musik verschiedenster Bands in leichte Schwingungen gebracht wurden – etwa durch Country Musik von Western Union mit Sänger Larry Schuba, die die Montagabende über neun Jahre geprägt haben, durch Rockmusik von Star Search-Gewinner Martin Kesici oder durch die Klänge des 2022 verstorbenen Sherman Noirs und seiner Gitarre.  Wie der Fußboden unter den Tanzenden zum Beben gebracht wurde. Wie das Lachen der Menschen bis in die hinterste Ecke drang. Wie gemeinsam Lieder gesungen wurden, Kinderherzen erwärmt und Obdachlose an den Tischen dankbar ihre leeren Mägen füllten. Wie einsame Menschen sich plötzlich weniger einsam fühlten und wie sich alle Leere mit Hoffnung, Freude und Liebe füllte. 

Doch nun tanzt dort niemand mehr. Alle Wärme ist aus dem kleinen denkmalgeschützten Eckgebäude gewichen. Die Stühle und Tische sind weggeräumt und auch alle anderen Möbel. Nach einer Kündigung der denkmalgeschützten Räume musste Norbert Raeder bis zum 31. Dezember die Schlüssel zu seiner Kult-Kneipe abgeben. 

„Das war ein riesen Schock für mich“, sagte Raeder Ende Dezember, als ich ihn besuchte, um über das Thema zu schreiben. Menschen schauten ungläubig durch die Fenster der kleinen Kneipe, Tanzbar und Eventlocation an der Residenzstraße 109 und trauten ihren Augen nicht, während er mir erzählte, was geschehen ist. „Ich habe alles überstanden – sogar den Lockdown in der Corona-Zeit. Und ich habe nie resigniert, waren die Zeiten auch noch so schwierig. Doch bei einer Kündigung ging der sonst so optimistische große Mann, der für Probleme immer eine Lösung hatte, verzweifelt in die Knie.

„Ich war gerade auf einer Kreuzfahrt mit meinem Vater in Richtung Skandinavien, als ich die Nachricht über die Kündigung erhielt“, erinnert er sich. „Ich fiel aus allen Wolken, denn mein Vermieter war bis dahin mein bester Freund. Er hätte doch zu mir kommen und mit mir reden können oder mich anrufen. Doch das hat er nicht getan. Und alles, was ich mir über Jahrzehnte aufgebaut hatte, brach auf einmal unter mir zusammen“, erinnert er sich. Die Hausverwaltung forderte den Angaben zufolge eine Mieterhöhung, die für Raeder nicht realisierbar war. 

Umzugstimmung: Im Dezember wurde alles zusammen- und ausgeräumt. Foto: fle

Er unterbreitete dem Vermieter Angebote, um sein Kastanienwäldchen behalten zu können. Die wurden jedoch nicht angenommen. „Man sagte mir, eine Packstation könnte hier einziehen – die gewünschte Miete würde bezahlt werden. Wie soll ich mit meinen Argumenten zu Nächstenliebe, Hilfe und Füreinander-Da-Sein gewinnen, wenn es hier einzig und allein um Geld geht?“, fragt er in den leeren Raum – und erhält nur ein hallendes Echo als Antwort. 

Und so begann er im Dezember, die Räume leerzuräumen. Hilfe erhielt er dabei von vielen, denen er geholfen hat. Klaus zum Beispiel: Er fährt in großen Rollcontainern die Hocker und Tische nach draußen. „Ich war über 30 Jahre drogen- und alkoholabhängig. Norbert kenne ich seit 2020, und er hat mir geholfen, hatte immer ein offenes Ohr für mich. Daraus ist eine Freundschaft entstanden. Ist doch klar, dass ich ihm hier helfe“, sagt er und schiebt die Container an uns vorbei. Mit einer Tüte selbst gebackener Kekse stehen plötzlich Biggy Stahl und Stephan Krone im Raum. „Wir haben uns vor 20 Jahren hier kennengelernt und waren Stammgäste. Heute wollen wir uns verabschieden und Norbert viel Glück wünschen“, sagt Krone.

Raeder hat eben einiges bewegt in diesen fast drei Jahrzehnten an der Resi. Er organisierte Halloweenfeiern für Kinder, Weihnachtsfeste für einsame Menschen und Gänse-Essen für Obdachlose. 

Er stampfte Projekte für Wohnungslose aus dem Boden und verteilte Kleidung, Schlafsäcke und Essen. Er kämpfte für Rentner, für den Erhalt von Kleingärten und gegen jegliche Art von Ungerechtigkeit. Das alles wurde nicht vergessen. „Nun bin ich überwältigt von der Hilfsbereitschaft und die mittlerweile mehr als 1.000 Kommentare auf Facebook. Für die Menschen war das mehr als eine Kneipe. Für viele war es Zufluchtsort und ein Zuhause“, sagt er. Unter einem Vorwand wurde Raeder am 20. Dezember zur Ehrenamtsweihnachtsfeier im Ernst-Reuter-Saal gefahren. Dort konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten, als Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner ihm die Reinickendorf-Medaille in Gold als Sonder-Ehrenpreis übergab. Er erhielt Standing Ovations für seinen Einsatz für die Schwächsten in der Gesellschaft. 

Die Räume an der Residenzstraße 109 sind nun kalt und leer. Schließlich hat der hilfsbereite Reinickendorfer die Wärme, Liebe und Gefühle mitgenommen. Denn dort, wo Norbert Raeder ist, ist auch Wärme, Hilfsbereitschaft und immer ein offenes Ohr. „Das, was ich geschaffen habe, soll nicht einfach so verschwinden“, sagt er zögernd zuversichtlich. Mittlerweile hat er im Café der NochMall an der Auguste-Viktoria-Allee 99 einen ersten neuen Anlaufpunkt gefunden. Dorthin kommen nun auch viele ehemalige Kastanienwäldchen-Besucher. Es geht also weiter …

Christiane Flechtner

Christiane Flechtner ist seit mehr als 30 Jahren als Journalistin und Fotografin in Reinickendorf und auf der ganzen Welt unterwegs. Nach 20 Jahren bei der Lokalzeitung Nord-Berliner ist sie seit der ersten Ausgabe mit im Team der Reinickendorfer Allgemeinen Zeitung und anderer Verlagsmedien. Sie arbeitet außerdem als freie Journalistin und Fotografin bei „Welt“, Berliner Zeitung und anderen Zeitungen in Deutschland, Österreich und Luxemburg sowie für u. a. Reise-, Wander- und Tiermagazine.