Frohnau – Ich sehe ihn noch genau vor mir – bei meiner Abiturfeier im Humboldt-Gymnasium hat er in der großen Aula die Abschlussrede gehalten. Jeder hing an seinen Lippen, denn die Worte, die er sagte, waren gewaltig, gewichtig, wichtig. Das waren sie immer – egal, wo er sie aussprach.
Nun ist Dr. Hinrich Lühmann, ehemaliger Schulleiter des Humboldt-Gymnasiums in Tegel und ehemaliger Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung, in der Nacht zum 11. November im Alter von 80 Jahren verstorben.
Lühmann war von 1991 bis 2008 Schulleiter des Berliner Humboldt-Gymnasiums und arbeitete von 1983 bis 2010 auch als Psychoanalytiker in eigener Praxis. Von 2011 bis 2018 war er Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Reinickendorf. Ich traf ihn regelmäßig im BVV-Saal und interviewte ihn auch von Zeit zu Zeit. Letztmalig traf ich ihn vor einem Dreivierteljahr im Wintergarten seines Hauses in Frohnau. Dort lehnte er sich auf dem Stuhl zurück, das dunkle Jackett lässig offen, nippte an seinem Kaffee und lächelte verschmitzt. Auf dem weißen Tisch lag das kleine Werk, um das es bei meinem Besuch ging: Rachulle. Bei diesem Buch, das im Januar druckfrisch aus dem Verlag kam, handelt es sich um einen Familienroman – die Geschichte seiner eigenen Familie – festgehalten auf fast 400 Seiten. Er sagte mir: „Mir war schnell klar, dass ich die Geschichte erzählen will – ganz traditionell für meine Kinder und Kindeskinder. Sie sollen wissen, was geschehen ist, wo ihre Wurzeln liegen, wer ihre Vorfahren waren.“
Sein Buch kam an. Er stellte es in diversen Lesungen vor. Und Anfang Mai feierte er mit zahlreichen Freunden, Bekannten und Verwandten seinen 80. Geburtstag.
Auch im Oktober 2018 war ich dabei, als er sich aus dem Amt des Bezirksverordnetenvorstehers verabschiedete. Rund 200 Gäste waren ins Foyer des Ernst-Reuter-Saals gekommen, es gab Standing Ovations. Er sagte damals zu seinem Abschied aus der Bezirkspolitik: „Es heißt: ‚Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch Verstand’“. Dann schaute er mit einem verschmitzten Lächeln in die Runde der anwesenden Gäste und fügte hinzu: „Belehrungen und Ermahnungen erspare ich mir in meiner Abschiedsrede. Denn diese sollte man tunlichst lassen, wenn man schon die Türklinke in der Hand hat und der Sekt warm wird.“
Daran denke ich, als ich nun über diesen, seinen letzten und endgültigen Abschied schreibe. Auch, dass er an seinem letzten Arbeitstag noch einmal durchs Rathaus gegangen ist und an zwei Skulpturen vorbeikam: „Das eine ist die Till-Eulenspiegel-Figur im Rathaus-Eingang, die uns dringend rät, doch bitte nicht alles bierernst zu nehmen. Und die zweite Skulptur ist eine Frauenfigur im Giebel des Eingangsportals, die ‚die Gemeinde’ darstellt. Und was macht sie? Sie drückt ein Auge zu!“ Und im Zusammenhang mit diesen beiden Skulpturen gab er den Anwesenden einen letzten Rat: „Ohne die Fähigkeit, auch mal Till Eulenspiegel zu sein, und, wenn es hart auf hart kommt, ein Auge zuzudrücken, funktioniert kein Gemeinwesen.“ Das sollten wir in Erinnerung behalten – so wie ihn.
Leben Sie wohl, lieber Herr Lühmann, Sie werden uns fehlen.