RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Die Fassade eines Schulgebäudes
Die Victor-Gollancz-Grundschule befindet sich in der gleichnamigen Straße in Frohnau. – Foto: bod

Grenzenloser Menschenfreund

Verleger Victor Gollancz und seine Entdeckung George Orwell

Die Welt wäre eine bessere, wenn das selbstlose Beispiel des Namensgebers der Victor-Gollancz-Grundschule in Frohnau überall Schule machen würde. Der 1893 in London geborene Verleger studierte in Oxford Altphilologie. Dort legte er auch die obligatorische Prüfung in Theologie ab. Von seinem jüdisch-orthodoxen Elternhaus wollte er sich lösen, daher war er offen für die Lehren des Christentums. Ganz besonders angezogen fühlte er sich jedoch vom sozialistischen Gedankengut. Als er seinen Verlag gründete, lag genau hier sein politischer Schwerpunkt. Mit dem von ihm ins Leben gerufenen „Left Book Club“ für eine linksorientierte Leserschaft beabsichtigte er, „den Kampf für Weltfrieden und gegen Faschismus“ zu unterstützen. Dieser Buchclub mit einem monatlich erscheinenden Titel wuchs überraschend schnell auf 57.000 Mitglieder an. Zu seinen politischen Mitstreitern zählte bald auch George Orwell, dessen Schriften Gollancz herausgab.

Victor Gollancz, ganz gemütlich mit einer Pfeife, Foto: Wikipedia

Die Zusammenarbeit mit George Orwell

Eines seiner Bücher thematisierte Orwells Schulzeit, die er alles andere als angenehm in Erinnerung hatte. Zwischen den Kindern aus reicheren Familien fühlte er sich wie ein „Goldfisch im Becken voller Hechte.“ Dieses Gefühl der Ausgrenzung hatte sicherlich großen Einfluss auf sein späteres Werk. Nicht zuletzt durch seine knapp vierjährige Laufbahn als Polizist im britisch besetzten Birma begann er, Kolonialismus und Klassenunterschiede zu verabscheuen und wollte Journalist werden. Anfangs sah er sich noch gezwungen, seinen Lebensunterhalt als Lehrer zu bestreiten. Gollancz zahlte einen Vorschuss von 40 Pfund an den jungen Autoren, der eigentlich Eric Arthur Blair hieß. Nach der Veröffentlichung seines ersten Buches „Down and Out in Paris and London“ blieb er beim Künstlernamen George Orwell.

Orwells Reportagen: Von Wigan Pier bis Spanien

Den Aufenthalt in „einem der schrecklichsten Orte, die ich je sah“ verdankte der Schriftsteller seinem Verleger – im Auftrag von Gollancz sollte er 1936 aus erster Hand über die schweren Lebensbedingungen der Arbeiter im nordenglischen Bergbau berichten. In Wigan bei Liverpool kam Orwell in einem der Elendsquartiere unter. Der Ort war derart berüchtigt für seine Armut, dass der Spruch „Urlaub am Wigan Pier machen“ zu einem geflügelten Wort für prekäre Verhältnisse wurde. Orwell ging der Frage nach, warum angesichts des offensichtlichen Elends die sozialistischen Parteien kaum Wahlerfolge aufzuweisen hatten. Er erklärte das mit der oft elitären Rhetorik der Linken.

Der Spanische Bürgerkrieg und „Mein Katalonien“

Über den Spanischen Bürgerkrieg berichtete Orwell anfangs nur als Journalist vor Ort, beschloss dann aber, aktiv am Konflikt teilzunehmen. Besonders ernüchternd waren für den Freiheitskämpfer die Angriffe von stalinistischer Seite, denn die sowjetisch gestützten Truppen machten nicht nur gegen die Faschisten, sondern auch gegen die anarchistischen und sozialistischen Widerständler Front. Diese Desillusionierung führte zu Orwells bitterer Abrechnung in „Mein Katalonien“. Eine Veröffentlichung des Textes lehnte Gollancz allerdings aus politischer Erwägung ab, ohne ihn gelesen zu haben. Orwells Roman „Coming Up for Air“ über einen Versicherungsvertreter auf den Spuren seiner Kindheit brachte Gollancz 1939 hingegen ohne größere Änderungen heraus. „Die Farm der Tiere“ verweigerte er dann jedoch wieder, weil die Fabel allzu deutlich die Zustände in der Sowjetunion kritisierte. Obwohl Gollancz mit Sicherheit kein Stalinist war, fürchtete er, die Satire würde die politische Rechte stärken.

Gollancz als Fürsprecher der Deutschen

Bei seinen Besuchen im Nachkriegsdeutschland sah Gollancz das Leid der Bevölkerung durch den Mangel an Lebensmitteln und verschaffte sich international Gehör als Fürsprecher für die durch den Krieg geschwächten Deutschen, indem er das Elend in seiner Schrift „In Darkest Germany“ ungeschönt schilderte. Zur Linderung der Not gründete er die Hilfsaktion „Save Europe Now“.

Gegen Kollektivschuld und für Menschlichkeit

In einem Artikel für den Spiegel vom Oktober 1947 erklärte Gollancz seinen Einsatz für die Deutschen so: „Diese Gräuel waren aber nur möglich durch die grundfalsche Auffassung einer Gruppe von Menschen, die nicht mehr den Menschen, sondern nur noch die Materie in ihm sah. Man muss dagegen ankämpfen, nicht in einer lehrhaften dogmatischen Weise, sondern man muss durch Beispiele zeigen, dass der andere Weg falsch war.“

Eine klare Haltung zur Erziehung

Von der Vorstellung einer Kollektivschuld hielt er nichts: „Ich halte diesen Begriff für unchristlich und nicht liberal und im Grunde für eine Naziphrase.“ Mit dieser Feststellung wollte er jedoch nicht die Verantwortung des Einzelnen kleinreden: „Es sollte Sache eines jeden Deutschen sein, sich zu bemühen und zu leben, um dieses große Unglück wieder gutzumachen.“ Seine Sichtweise erläuterte er am Beispiel des Umgangs mit den eigenen Kindern: „Ich selbst bin Vater von fünf Töchtern im Alter von 17 bis 25 Jahren und bin in der Erziehung von Menschen nicht ganz unerfahren. Wenn man in einem Moment des Ärgers einem Kind gegenüber unfreundlich ist, so wird es störrisch und hartnäckig. Kommt man ihm aber mit Verständnis, Liebe und Güte entgegen, dann löst sich sofort die Schranke, und man hat wieder ein gutes Verhältnis hergestellt.“

Politische Skrupel und verlorene Chancen

Die politischen Skrupel, die Gollancz bei der Auswahl von Manuskripten für seinen Verlag an den Tag legte, hatten zur Folge, dass ihm Weltliteratur entging: Orwells Roman „1984“ erschien im Juni 1949 beim antifaschistischen und antikommunistischen Verlag Secker & Warburg. Der Titel entstand im Jahr zuvor, indem Orwell die letzten beiden Ziffern der Jahreszahlen vertauschte. Seine Dystopie sollte nämlich von einer nicht allzu fernen Zukunft handeln. Anfangs spielte er noch mit dem Gedanken das Werk „Der letzte Mensch in Europa“ zu nennen. Großbritannien ist hier Teil der Weltmacht Ozeanien, deren Führer Big Brother alle seine Untertanen überwacht und diejenigen unterdrückt, die nicht mit dem System kooperieren. „Big Brother is watching you“ ist längst zu einer Redewendung geworden, die auch jene kennen, die den Roman nicht gelesen haben; sogar das in vielen Ländern erfolgreiche Show-Konzept „Big Brother“, in dem eine Gruppe von Menschen in jeder Lebenslage per Kamera überwacht werden, verdankt seinen Titel letztlich Orwell.

Ehren und Vermächtnis

Als Anerkennung seines unermüdlichen Einsatzes für Gerechtigkeit bekam der Verleger 1949 in Frankfurt am Main die Goetheplakette der Stadt und die Ehrendoktorwürde der Universität verliehen. 1953 zeichnete ihn die Bundesrepublik Deutschland mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern aus. In seiner Heimat ehrte ihn Queen Elizabeth 1965 mit dem Ritterschlag zum Knight Bachelor. Gut vier Jahrzehnte zuvor war sein Onkel in denselben Rang erhoben worden und war damit der erste Rabbi mit dieser königlichen Anerkennung.

Der Buddy-Bär als Erinnerung in Frohnau

1967 starb Gollancz im Alter von 73 Jahren; immerhin dürfte er im Jahr zuvor noch mit Genugtuung die Abschaffung der Todesstrafe in Großbritannien aufgenommen haben: Auch ein Anliegen, für das sich der sozial so Engagierte eingesetzt hatte. In Frohnau wurde eine Straße nach dem unerschütterlichen Menschenfreund benannt, auch die musisch ausgerichtete Grundschule dort erhielt seinen Namen. Der Buddy-Bär vor dem Gebäude wurde passenderweise Victor getauft. Sein leuchtendes Vorbild, über alle Ländergrenzen hinweg, sollte nie vergessen werden: „Nur durch gemeinschaftliches Wollen kann es zu einer Versöhnung kommen.“

Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Beitrag aus dem neuen RAZ Magazin (Ausgabe 06/24).

Das PDF mit allen Inhalten finden Sie unter www.raz-verlag.de/publikationen/RAZ-Magazin
Boris Dammer