„Kurz oder lang?“ – so lautet häufig die erste Frage, die sich Philipp Canzler und sein Freund und Nachbar allmorgendlich stellen. Sie wohnen in Frohnau, ihre Arbeitsstellen liegen an der Friedrichstraße, und sie nehmen das Fahrrad für den täglichen Weg zur Arbeit. Oft fahren sie gemeinsam, manchmal kurvt Canzler allein durch die Stadt. Kurz, das sind 38 Kilometer hin und zurück. Lang, dann geht es über Hennigsdorf und Spandau nach Mitte, teilweise über den Europaradweg Berlin-Kopenhagen, und da kommen 64 Kilometer zusammen. „Ich hatte mir für das Jahr 2024 12.000 Kilometer als Ziel gesetzt, das habe ich geschafft“, sagt der passionierte Radler. Wind und Wetter sind egal, Canzler nimmt eigentlich immer das Rad. Autofahren hat er sich komplett abgewöhnt. „Die Saison geht vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, nur bei Glatteis lasse ich das Bike dann doch schon mal stehen.“
Ein Arbeitsplatz mit Radgarage
Aber wann gibt es in Zeiten des Klimawandels noch Glatteis in Berlin? Bei seinem Arbeitgeber, einer weltweit operierenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, jedenfalls kann er sein Rad sicher in der zum Betrieb gehörenden Tiefgarage anschließen. Im Büro hat er die Möglichkeit zum Duschen, Wechselkleidung, Wasch- und sogar Schuhputzzeug liegen immer bereit, erzählt Canzler, der im vorigen Jahr 30. Jubiläum bei seinem Arbeitgeber feierte.
Rheinische Wurzeln und Berliner Kneipenkultur
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Wir treffen ihn an einem kalten Tag im Januar um die Mittagszeit in der „Ständigen Vertretung“, kurz StäV genannt, eine berühmte Kneipe mit rheinischer Küche, Bogenfenstern und gerahmten Fotos von Politikern teilweise in Plakatgröße an den Wänden. Und das ist nur logisch, Canzler ist Rheinländer, und das hört man auch. Den Dialekt verliert man auch nach 30 Jahren in Berlin niemals ganz. Geboren wurde er in Bergisch-Gladbach, dann studierte er in Bonn. Hier war er häufig zu Gast in der Kneipe von Harald Grunert, der 1997 nach Berlin umzog und zusammen mit seinem Kompagnon Friedhelm Drautzburg die StäV eröffnete, in der das Kölsch in Strömen fließt und die sich als Vertreter der rheinischen Kultur im preußischen Berlin versteht. Grunert hat sich inzwischen aus dem Betrieb zurückgezogen, aber Canzler ist nach wie vor Stammgast.
Vom Rheinland nach Berlin – mit Stationen in aller Welt
1994 kam er von der alten in die neue Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands, beruflich hatte er aber auch viel im Ausland zu tun. Von 2002 bis ’03 arbeitete er in Boston (USA), von 2008 bis 2011 in Shanghai in China. „Da bin ich auch oft mit dem Rad zur Arbeit gefahren“, erzählt der Rheinländer aus Frohnau. In der Jugend Fußball- und Hockeyspieler, entdeckte er alsbald auch die Liebe zum Radsport. Die Übertragungen der Tour de France verfolgte er schon damals intensiv, besonders einer hatte es ihm angetan. „Miguel Indurain, das war nicht so ein ausgezehrter Jockey wie die Topfahrer von heute. Indurain hatte einen unglaublich eleganten Fahrstil.“ Der Spanier war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre der Dominator der Tour wie vor ihm Eddie Merckx oder später Lance Armstrong, dem alle Triumphe wegen Dopings allerdings aberkannt wurden. Indurain gewann die Tour von 1991 bis ’95 fünfmal in Serie.
Die Leidenschaft für Fahrräder
Wie jeder echte „Radfreak“ besitzt natürlich auch Canzler mehrere Räder. Für den Weg zur Arbeit nimmt er ein Tourenrad mit Gepäckträger, aber mit Rennlenker, er nennt noch ein Cannondale, ein Colnago und ein Pasculli aus einer kleinen, aber feinen Fahrradmanufaktur in Friedenau sein eigen. Sein erstes gutes Rad, seinerzeit von der Bremer Fahrradmanufaktur gefertigt, erwarb er für 1.000 Mark, sein erstes Rennrad stammte von der Edelschmiede Pinarello, die einst auch die Räder für das erfolgreiche deutsche Telekom-Team mit Jan Ullrich, Jens Heppner und Erik Zabel fertigte, und kostete damals 3.200 Mark.
Touren durch Berlin und Europa
Natürlich fährt Canzler nicht nur zur Arbeit mit dem Rad. Immer um Himmelfahrt trifft er sich zu Touren mit Kumpels aus gemeinsamen Zeiten bei der Bundeswehr, zwischen Weihnachten und Neujahr hat die Umrundung Berlins mit Freunden über den 160 Kilometer langen Mauerweg inzwischen Tradition. Und seine Frau Cara, eine Kanadierin aus Vancouver, mit der er seit 1997 verheiratet ist, teilt seine Leidenschaft. Gemeinsam gehen sie immer wieder auf große Urlaubstour auf zwei schmalen Pneus mit Packtaschen und Zelt. „Meist fährt sie vorneweg, da kann ich mich im Windschatten immer schön ausruhen“, lacht Canzler. „Cara mag es nicht, hinterher zu fahren, sie will freie Sicht nach vorn haben.“ 2020 radelte das Paar von Düren nach Santiago de Compostela, dem Endpunkt des Jakobswegs, im vorigen Mai von Visp im schweizerischen Wallis nach Marseille. Und mit den drei gemeinsamen Kindern sind sie vor einigen Jahren auch mal von Berlin nach Kopenhagen getourt.
Radfahren als Lebensgefühl
„Man kommt bei längeren Touren in einen ganz anderen Rhythmus, die Perspektiven verschieben sich. Und man kommt ganz anders in Kontakt zu den Leuten. Im Baskenland, das für seine Liebe zum Radsport bekannt ist, haben sie uns teilweise richtig angefeuert“, erzählt Canzler.
Für das nächste Jahr ist auch schon wieder etwas geplant. Dann soll es durch die Bretagne gehen, mit St. Malo als Startpunkt. „Früher hatte ich mal Rückenprobleme, eine Ärztin sagte damals, ich solle es mit Spaziergängen belassen. Aber das mit den Rückenschmerzen hat sich gelegt“, sagt der 58-Jährige. „Zum Glück, Radfahren hat mein Leben absolut bereichert.“
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Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Beitrag aus dem neuen RAZ Magazin (Ausgabe 01/25).
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