Reinickendorf – Irgendwann kommt der Tod zu jedem. In Berlin geschieht das durchschnittlich 112 Mal am Tag. Wenn jemand stirbt, muss ein Arzt benachrichtigt werden, der den Tod feststellt. Das ist einerseits eine medizinische Untersuchung und andererseits ein bürokratischer Akt. Der Arzt oder die Ärztin füllt nach der Feststellung des Todes einen „Leichenschauschein“ aus. So lautet das Wortungetüm in Berlin. In Brandenburg und anderswo heißt es kürzer „Totenschein“. Im Gesundheitsamt von Reinickendorf werden die Leichenschauscheine von ganz Berlin archiviert. Und das bereits seit zehn Jahren.
Zettel in vielen Farben
Wer nun glaubt, die Erstellung des Leichenschauscheines geschehe digital, um die Lesbarkeit und Weiterverarbeitung zu erleichtern, der irrt. Zunächst wird alles mit Kugelschreiber in ein Papierformular eingetragen, das drei Durchschläge hat. Die rosa Seite enthält vertrauliche Informationen wie die Todesursache. Diese rosa Zettel aus allen Ecken Berlins werden zum Gesundheitsamt nach Reinickendorf geschickt. Die anderen sind grün, gelb und blau. Den letzten Durchschlag muss der Arzt oder die Ärztin für zehn Jahre bei sich aufbewahren.
Es fällt einiges an Papier nach dem Tod an. So geht ein Exemplar an das Standesamt, das die Sterbeurkunde anfertigt, die für die Beerdigung, die Krankenkasse und das Finanzamt benötigt wird. Die vertraulichen Informationen arbeitet das Gesundheitsamt auf. Der Amtsarzt von Reinickendorf, Patrick Larscheid, ist Herr über die Leichenschauscheine der Hauptstadt. Er hat vier Angestellte, die die Dokumente entgegennehmen, sortieren und schlussendlich doch digitalisieren.
Ein deutschlandweit einzigartiges Archiv
Die in den Computer eingegebenen Daten stehen ab dann in anonymisierter Form der statistischen Verwertung und wissenschaftlichen Institutionen zur Verfügung. Das sind wichtige Rohdaten, um Erkenntnisse über Gesundheit und Sterben zu erlangen. In dieser Form sei das Zentralarchiv in Reinickendorf für ein ganzes Bundesland einmalig in Deutschland, sagt Larscheid. Bis auf „Hausnummer-Ebene“ können durch die Vorarbeit seiner Abteilung Todesursachen in Berlin nachgegangen werden.
Tausende Zettel und ein Raum voller Akten
Allerdings müssen die vielen Leichenschauscheine der Großstadt Berlin, trotz digitaler Eingabe der Daten, im Original aufbewahrt werden. Das sind mit der Zeit etliche hunderttausend rosa Zettel, die sich in Aktenordnern ansammeln. Ein Raum im Gesundheitsamt in der Teichstraße ist mit Riesenschrankwänden ausgefüllt. Auf der offiziellen Website des Bezirks heißt es: „Das Zentralarchiv für Leichenschauscheine steht für Anfragen der Öffentlichkeit zur Verfügung.“
Die besondere Arbeit des Amtsarztes
Doch Amtsarzt Patrick Larscheid gibt sich nicht mit der bloßen bürokratischen Handhabe der Leichenschauscheine zufrieden. Etwa vier Mal im Monat werde er von der kassenärztlichen Vereinigung gebeten, selbst eine Leichenschau vorzunehmen. Vornehmlich nachts, „denn tagsüber arbeite ich ja.“ Er empfinde diese Aufgabe für Ärzte als „hochspannend, weil wir Dinge sehen, die andere nicht zu sehen bekommen“. Er zückt sein Handy und zeigt Fotos von einem Selbstmörder, der sich stranguliert hat, und einer in der Verwesung begriffenen Leiche, deren Gesicht über und über mit Insekten bedeckt ist. Sie lag dort in der Wohnung etwa drei Wochen im Sommer bei offenem Fenster. In einem solchen Fall sei es nicht immer einfach, die geforderten Daten von der Todesursache in den Leichenschauschein einzutragen. Er sieht erheblichen Fortbildungsbedarf bei Ärzten und engagiert sich auch mit seinen Erfahrungen, indem er Vorträge und Seminare hält.
Als die „vornehmste ärztliche Aufgabe“ am Ort des Todes hält Larscheid aber das Trösten der Hinterbliebenen: „Der Tod ist schwer auszuhalten.“ Der Redebedarf sei häufig sehr hoch und dem dürfe er sich als Arzt nicht entziehen. Auch wenn viel Papierkram auf ihn wartet.