Eine 111-jährige Idee

Hermsdorf – Zur Zeit liegt die älteste Jugendherberge der Stadt noch im Dornröschenschlaf, denn aufgrund der Corona-Pandemie öffnet das Gästehaus „Ernst Reuter“ am Hermsdorfer Damm voraussichtlich erst im März nächsten Jahres wieder. Dabei hat das Deutsche Jugendherbergswerk (DJH) dieses Jahr einen Grund zum Feiern, da der Geistesblitz eines Lehrers während eines Unwetters vor 111 Jahren als Geburtsstunde der Jugendherberge gilt. Der 27-jährige Pädagoge an einer Volksschule bei Gelsenkirchen war entsetzt, wie fern von Wald, Wiesen und frischer Luft die Kinder dort aufwuchsen. Um der „Unnatur der Großstadt“ etwas entgegenzusetzen, unternahm Richard Schirrmann häufig Wanderungen mit seinen Schülern. Damit stieß er bei seinem Direktor aber auf wenig Verständnis. Erst an einem neuen Arbeitsplatz fand er Gehör mit seiner Forderung nach ausgiebiger Bewegung in freier Natur.

Bei einer Wanderung im August 1909 zwang ein heftiges Gewitter Schirrmann und seine Klasse in eine Dorfschule als Notunterkunft für die Nacht. Dort kam er auf die Idee, in möglichst vielen Schulen zur Ferienzeit Schlafmöglichkeiten für Wanderjugendgruppen bereit zu halten. Für diesen Vorschlag waren die meisten Lehrer allerdings nicht zu begeistern. Aber er warb unermüdlich für seinen Plan ein Netzwerk von Schlafstätten aufzubauen. 1912 eröffnete er auf der Burg Altena im Sauerland eine Herberge in drei Kellerräumen. Schon zwei Jahre später gab es landesweit bereits über 500 Unterkünfte. Die Ausstattung war äußerst spartanisch. Teilweise schliefen die Jugendlichen auf Stroh; oft gab es statt eines Waschraums nur eine Wasserpumpe vor dem Haus. 1919 gründete sich der Reichsjugendherbergsverband, dem sich Schirrmann bald hauptberuflich widmete.

Mitte der Zwanziger Jahre nutzen viele die Herbergen als billige Unterkunft für eine fröhliche Landpartie mit dem Auto. Das war so gar nicht im Sinne des Verbands, daher wurde 1927 beschlossen, denjenigen, die motorisiert anreisten, die Übernachtung zu verweigern; die strenge Regel galt noch fast 30 Jahre lang. Noch in den Fünfzigern soll ein übereifriger Herbergsvater einen Gast vor die Tür gesetzt haben, dessen Jacke nach Benzin roch.

Nach Hitlers Machtergreifung 1933 wurde der Verband schnell in den Dienst der Diktatur gestellt. Die sozialdemokratischen und jüdischen Leiter wurden aus ihren Ämtern vertrieben, und die Hitler-Jugend übernahm die Führung. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Herbergen erst für die Kinderlandverschickung und später als Lazarett genutzt. Nach Kriegsende kamen dort häufig Flüchtlinge unter. 1948 setzte sich Schirrmann für den Wiederaufbau des DJH ein.

Die Jugendherberge in Hermsdorf eröffnete im Juli 1956. Trotz der idyllischen Lage am Tegeler Fließ kamen die Gäste weniger der Natur wegen. Die Anziehungskraft Berlins lag damals natürlich vor allem in der Besonderheit der geteilten Stadt. Unzähligen Schülern auf Klassenfahrt diente das Haus mit 111 Betten in 25 Zimmern schon als Quartier. Aber nicht alle Eltern ließen ihre Sprösslinge mitreisen, da einigen die Reise durch „die Zone“, wie die DDR noch oft genannt wurde, zu gefährlich schien.

Heute gibt es rund 450 Jugendherbergen in Deutschland, vier davon in Berlin. Insbesondere Familien und Gruppen nutzen die preiswerten Unterkünfte nach wie vor gerne. Es bleibt zu wünschen, dass der Standort am Hermsdorfer Damm wie geplant im März wieder den Betrieb aufnehmen kann – in dem Jahr nämlich, in dem das Haus seinen 65. Geburtstag feiert. bod

Jugendherberge im Wandel: Auch im Bereich der Aktivitäten hat sich in den vergangenen 111 Jahren eine Menge gewandelt.

Foto: obs/DJH – Deutsches Jugendherbergswerk/DJH-Bildarchiv/Patric Fouad

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.