Eine Insulanerin in Berlin

Tegel – Sie schaut aufs Wasser. Dort liegt das kleine Boot mit dem Lindgren-Namen Pippilotta. Ein Keks in der Hand, ein heißer Tee in der anderen, schippert die 47-Jährige dann frühmorgens los in Richtung Arbeit. Wiebke Nehls ist eine von wenigen Insulanerinnen in Berlin. Sie wohnt mit ihrer Familie auf der Insel Valentinswerder im Tegeler See. Die RAZ sprach mit ihr.

Wie kommt man als Heiligenseerin darauf, auf eine Insel zu ziehen?

Ich habe eine Anzeige in der Zitty gesehen. „Hütte auf Berliner Insel zu verkaufen“ stand dort. Es handelte sich dabei um eine Sommerlaube auf einem Pachtgrundstück. Da ich schon immer am Wasser wohnen wollte, wollte ich es mir unbedingt anschauen.

Doch daraus wurde nichts?

Nein, das hätte nicht funktioniert. Ich hätte weiterhin eine Wohnung auf dem Festland haben müssen. Doch ich erinnerte mich, dass ein Kollege von mir mal erzählt hatte, dass er auf Valentinswerder in einem Haus wohnen würde. Ich habe ihn dann ganz spontan aufgesucht und erfahren, dass er von dort wegzieht. Als ich mir das Haus und vor allem die Aussicht genauer anschaute, wusste ich: Hier will ich leben.

Wie ging es dann weiter?

Ich habe meine Wohnung innerhalb von 24 Stunden gekündigt und den damaligen Inselverwalter angeschrieben, ob es möglich wäre, hier einzuziehen. Nun muss man dazu sagen, dass viele Menschen erst einmal sagen: „Leben auf der Insel – au ja!“ Aber wenn sie es sich dann genau überlegen, machen sie einen Rückzieher. Man muss schließlich gewisse Herausforderungen in Kauf nehmen. Für mich war jedoch klar: Das ist mein Traum, den ich leben will. Und zweieinhalb Monate später bin ich hier eingezogen.

Wie kommen Sie zur Arbeit?

Ich habe mein eigenes Boot, mit dem ich bei Sonne und Regen, im Dunkeln oder im Schneetreiben nach Saatwinkel fahre. Dort steht mein Auto, und von dort aus fahre ich dann zu meiner Arbeit in die Klinik nach Zehlendorf. Doch das Erste, was ich jeden Tag tue, ist schwimmen zu gehen. Einmal rein in den See, manchmal auch nur kurz – sei es auch noch so dunkel oder so eisig.

Lässt sich das Inselleben mit Ihrem Berufsleben vereinbaren?

Ich bin Oberärztin in einer Lungenklinik und leite den Bereich der Palliativversorgung. Dort kümmere ich mich um die Schwerstkranken und Sterbenden. Für mich ist die Insel ein perfekter Ort, um abzuschalten und Energie zu tanken, ein Ausgleich zur doch sehr emotionalen Arbeit. Es gibt keinen besseren Ort für mich, der mich auffängt, der mich hält. Ich ziehe meine Kraft aus den Elementen, die hier so klar und unverfälscht um mich herum existieren. Hier finde ich immer wieder aufs Neue inneren Frieden.

Sie leben auf Valentinswerder mit ihrem Ehemann Michael und ihren beiden Kindern, der vierjährigen Lotta und der sechsjährigen Lina. Ist der Alltag schwierig zu bewerkstelligen?

Nein, ich könnte mir keinen besseren Ort für mich, meinen Mann und meine Kinder vorstellen. Zurzeit haben Eltern auf der Insel einen Kitadienst zu Zeiten von Corona eingerichtet. Wo könnten Kinder besser aufwachsen? Das Erste, was sie allerdings lernen mussten, war das Schwimmen.

Wie viele Häuser sind hier auf der Insel dauerhaft bewohnt?

Es sind sieben Häuser fest bewohnt – inklusive unserem. Alle anderen werden als Wochenendhäuser genutzt. Doch wir ‚Dauer-Insulaner‘ sind eine tolle Inselgemeinschaft, wo man sich austauscht und auch in allen erdenklichen Situationen aushilft. Wir sitzen oft zusammen, treffen uns spontan, um gemeinsam mit den Kindern draußen zu essen – es ist etwas Einzigartiges, das ich sehr schätze.

Wenn Sie jemand besuchen möchte, wie gelangt er auf die Insel?

Die Fähre fährt am Wochenende mehrmals. Wochentags wurde sie allerdings abgeschafft. Dann hole ich oder mein Mann unsere Besucher mit dem Boot ab.

Fehlt Ihnen irgendetwas so ohne Supermarkt und ohne viel Zivilisation drum herum?

Nein, mir fehlt gar nichts. Im Gegenteil – ich langweile mich sehr schnell bei oberflächlichen Begegnungen. Deshalb würde mir die City gar nicht guttun. Und jeder, der bei uns zu Besuch ist, wird schnell geerdet und kommt sofort richtig an. Kurze unverbindliche Treffen gibt es hier weniger. Du kannst nicht nur halb hier sein – entweder ganz oder gar nicht. Und Du musst Zeit mitbringen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview Christiane Flechtner

Mit Lotta und Lina im Boot Foto: fle

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.