„Wenn man nach einer Formel sucht, mit der das Wichtigste gesagt wird, was über Franz Neumann zu sagen ist, dann scheint dies die treffende, die beste, die richtigste zu sein: waschechter Berliner! Das sagt alles. Da liegt alles drin.“ So pathetisch beschrieb einst der SPD-Pressedienst den Genossen. „Das Glück dieser Stadt war sein Glück, wie auch ihr Leiden sein Leiden war. Ihre Hinterhöfe waren seine Hinterhöfe. Ihre Arbeit war seine Arbeit. Jawohl, es war die große Stadt, die aus dem fünfzehnjährigen Schlosserlehrling schließlich den Franz Neumann von heute gemacht hat.“
Der Politiker legte stets großen Wert auf seine Herkunft: „Ich bin ein echtes Berliner Kind. Im Verwaltungsbezirk Friedrichshain 1904 geboren und dort groß geworden. Ich bin Berlin immer treu gewesen, selbst in der schlimmsten Zeit meiner Verhaftungen.“
Die einfachen Verhältnisse, aus denen er stammte, prägten sein Bewusstsein für soziale Nöte: „Mein Vater kommt aus Schlesien, meine Mutter aus der Neumark. Wir haben in Stube und Küche parterre gewohnt – also sechs Menschen in einem Zimmer, in einem großen Berliner Zimmer, gewohnt und geschlafen.“
Der gewerkschaftlich organisierte Vater nahm ihn schon früh zu Kundgebungen mit und so erlebte er noch die sozialdemokratische Lichtgestalt August Bebel in Person, wobei die roten Fahnen den kleinen Jungen damals weit mehr beeindruckten.
Dankbar erinnert er sich an seinen Schulrektor, der ihm wie einigen anderen begabten Schülern das Stenografieren beigebracht hatte. Schon früh war der Schlosserlehrling politisch aktiv und trat 1919 dem Metallarbeiter-Verband bei. Bereits im Folgejahr stieg er zum Vorsitzenden der Berliner Metall-Arbeiter-Jugend auf.
„Ich habe seit 1925 die Deutsche Hochschule für Politik im Schinkelbau an der Museumsinsel besucht. Und daher rührte auch meine erste Freundschaft mit dem Bundespräsidenten Professor Theodor Heuss“, erinnerte er sich in einem Interview mit dem Südwestfunk an seinen Studienbeginn: „Ja, da ließ mich der Direktor der Hochschule, Theodor Heuss, kommen. Er wollte wissen, warum ein Schlosser hier Vorlesungen bei ihm hat – Arbeitsrecht. Ich habe ihm das erklärt, und als wir uns dann nach dem Zweiten Weltkrieg in Bonn wiedertrafen, da erinnerte er sich dieses Gesprächs mit dem jungen Schlosser.“
Die Hochschule war eine private Bildungseinrichtung, die durch die Demokratiewissenschaft für eine funktionierende liberale Republik entscheidende Werte vermitteln wollte; der renommierte Soziologe Max Weber war einer ihrer bekanntesten Förderer.
Neumann arbeitete nach seinem Examen als Jugendfürsorger unter anderem in den „Werkstätten für arbeitslose Jugendliche“ am Prenzlauer Berg. 1929 heiratete er Gertrud Jänichen, mit der er in der Tegeler Wohnungsbaugenossenschaft „Freie Scholle“ zunächst im Allmendeweg wohnte. Als vom dortigen Gemeinschaftssinn überzeugter Bewohner pflegte Neumann regen Kontakt mit den in Opposition zur Nazi-Ideologie stehenden Nachbarn: „Ich bin mit einigen aus der Freien Scholle in das Reichsbanner eingetreten und war dort bis zum Schluss aktiv tätig. Wir haben Versammlungsschutz gemacht. Wir haben uns auch geprügelt.“ Der Reichsbanner war ein Wehrverband von Demokraten, die die junge Republik mit allen Mitteln schützen wollten. In jenen Jahren vor dem Wahlsieg der NSDAP kam es nicht selten zu Straßenkämpfen zwischen den Rechten und ihren Gegnern. Dass Neumann nicht am Rowdytum, sondern an ernsthafter politischer Arbeit gelegen war, beweist sein beharrlicher Einsatz für die SPD. Er brachte es zum Bezirksverordneten in Reinickendorf, bis das neue NS-Regime seiner Laufbahn vorläufig ein Ende setzte und ihm im Dritten Reich nur noch seine Arbeit als Schlosser blieb. Seine politische Entschlossenheit brachte ihn bald in größte Schwierigkeiten. Die Gestapo nahm ihn fest und folterte ihn bei Verhören, was eine lebenslange gesundheitliche Beeinträchtigung nach sich zog. Inhaftiert war er im Columbia-Haus, einer ehemaligen Arrestanstalt für Soldaten von 1896. Die SS errichtete dort für einige Jahre ein Konzentrationslager, das berüchtigt für seine Brutalität war. Zu den Inhaftierten gehörte auch der als Kommunist verfolgte Erich Honecker.
Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilte das Berliner Kammergericht den SPD-Politiker im Juli 1934 zu einer anderthalbjährigen Haftstrafe. Im Krieg wurde das Haus in der Allmendestraße so stark beschädigt, dass Neumann mit seiner Frau in den Moorweg 10 zog. Der SPIEGEL beschreibt die Stunde Null so: „Als Anfang 1945 die Rote Armee über Berlin hereinbrach, zog Neumann den Schlosseranzug aus, sammelte in Reinickendorf seine alten Genossen und knüpfte wieder dort an, wo die deutsche Sozialdemokratie 1933 aufgehört hatte.“
Als Wahlergebnisse in Ungarn und Österreich zeigten, dass sich die KPD bei den Wählern nicht allzu großer Beliebtheit erfreute, strebte die sowjetische Militärführung in Berlin eine Vereinigung von KPD und SPD an. Es kam sogar zu Verhaftungen durch die sowjetische Verwaltung von SPD-Mitgliedern, die sich einer Zusammenführung der Parteien entgegenstellten, woraufhin sich zahlreiche Sozialdemokraten in den Westen absetzten. Dieser Umstand erleichterte wiederum die Schaffung der Einheitspartei.
Im April 1946 setzte sich der westliche Landesparteitag mit Unterstützung von Kurt Schumacher, dem Vorsitzendem der westdeutschen SPD, gegen diese „Zwangsvereinigung“ zur Wehr, auf dem Neumann neben zwei Parteigenossen zum Berliner Vorsitzenden gewählt wurde. Diese Lebensleistung würdigte der Berliner Bürgermeister Wowereit 58 Jahre später in einer Gedenkrede: „Unvergesslich ist die Funktionärskonferenz im Admiralspalast, in der Franz Neumann mit großer Klarheit und Leidenschaft die Mehrheit im Saal für eine Urabstimmung gewinnen konnte. Während draußen sowjetische Truppen das Gebäude umstellt hatten. Den Zusammenschluss von SPD und KPD in den Westsektoren verhindert zu haben, das war vielleicht sein größter Sieg. Franz Neumann ist es wesentlich zu verdanken, dass die SPD in den drei Westzonen am Leben blieb.“
Willy Brandt, der im Jahr zuvor stimmberechtigtes Mitglied im Parteivorstand geworden war, stellte sich 1952 mit Unterstützung durch Ernst Reuter gegen Neumann zur Wahl, erlangte aber nur ein Drittel der Stimmen. Dennoch wurde Brandt in den kommenden Jahren zur ernsthaften Konkurrenz. Mit teils eigenmächtigen Entscheidungen verlor Neumann an Vertrauen in der West-Berliner Partei-Basis. Der Konflikt begründete sich wohl nicht allein auf die politischen Unterschiede, sondern lag in erster Linie an den eigensinnigen Persönlichkeiten der beiden. Während Brandt sich eher als Mann von Welt präsentierte, trug Neumann mit Stolz seine Herkunft aus dem Proletariat zur Schau. Wie spätere Wahlen zeigten, konnte sich der bürgerliche Teil der Bevölkerung eher mit Brandt in einem führenden politischen Amt anfreunden.
Als sich im Herbst 1956 die neu gebildete Regierung in Ungarn vom Warschauer Pakt lösen wollte, rückten die übermächtigen sowjetischen Truppen in das Land ein. Beim erbitterten Kampf gegen die Invasion gab es viele Toten. Der Westen erklärte sich zwar mit den Aufständischen solidarisch, mischte sich aber militärisch nicht in den Konflikt ein. In West-Berlin war die Empörung über das brutale Vorgehen gegen die Ungarn so groß, dass es schwierig wurde, die aufgebrachten Protestierende zu beruhigen. Neumann hielt eine Rede, bei der er offensichtlich nicht die richtigen Worte fand und ausgepfiffen wurde. Erst Brandt gelang es die Situation zu deeskalieren. Spätestens von diesem Moment an war klar, wer den Sieg in der Rivalität der beiden großen SPD-Männer davontragen würde. Neumann blieb bis 1960 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses und bis 1969 Abgeordneter im Deutschen Bundestag.
Die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlins wurde ihm 1971 neben anderen Verdiensten auch ausdrücklich deshalb verliehen, weil er „beim Aufbau der Arbeiterwohlfahrt mitgeholfen hat“. Mit der Auszeichnung steht Neumann in einer Reihe mit illustren Persönlichkeiten wie Zar Nikolaus I., Otto von Bismarck, Robert Koch, Anna Seghers, Marlene Dietrich und Konrad Adenauer.
Neumann hatte zwar noch die Absicht geäußert, seine Lebenserinnerungen zu Papier zu bringen, kam jedoch vor seinem Tod am 9. Oktober 1974 nicht mehr dazu. Die zahlreichen Dokumente seines politischen Lebens übergab die Witwe einem Archiv zur Geschichte der Berliner Sozialdemokratie.
Während die Namensgebung des Franz-Neumann-Platzes in Reinickendorf problemlos erfolgte, fremdelten die Berliner mit der Umbenennung der dortigen U-Bahnstation – daher lief es auf eine Art Doppelnamen mit den Zusatz „Am Schäfersee“ hinaus.
Für seinen Einsatz beim Wiederaufbau der „Freien Scholle“ ehrt die Genossenschaft Neumann noch heute als „großen Schollaner“. An der bescheidenen Haushälfte im Moorweg 10 erinnert eine Gedenktafel an den prominenten Bewohner, der den Geist der Siedlung so vorbildlich verkörperte.
Wowereit über den Genossen
Der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit hielt zu Neumanns 100. Geburtstag im Berliner Abgeordnetenhaus 2004 eine Rede in Gedenken an seinen bedeutenden Parteigenossen: „Für Franz Neumann war die Geschichte nach 1945 nicht einfach stehen geblieben. Dazu hatte er selbst zu viel erlebt. Franz Neumann war durch und durch Sozialdemokrat: Arbeiterkind aus Friedrichshain, Schlosserlehre, Metallarbeiterverband, mit 16 in die SPD. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, da wurde Franz Neumann wie viele Sozialdemokraten verhaftet, gefoltert, ins KZ gesperrt… Aber er wusste, dass man gegen Terror und Unterdrückung kämpfen muss und dass man diesen Kampf nie aufgeben darf.“
Franz Neumann und die Arbeiterwohlfahrt
Marie Juchacz gründete den Verein 1919 in erster Linie, um die bittere Not unter den Ärmsten nach dem Ersten Weltkrieg durch Suppenküchen und Nähstuben zu lindern. Rasch wuchs die Organisation über ihre anfänglichen Aufgaben hinaus und wurde zu einem Verband von zahlreichen Ortsvereinen, die sich als Ergänzung zu den staatlichen Sozialeinrichtungen um die Belange Bedürftiger kümmerten. Neumann ist „seit über 28 Jahren ehrenamtlich immer einer der ersten drei an der Spitze der Arbeiterwohlfahrt in Berlin gewesen“. Zum 50. Jubiläum der AWO wurde 1968 eine Auszeichnung ins Leben gerufen, mit der Personen geehrt werden sollten, die sich besonders um die Organisation verdient gemacht haben. Mit dem Namen der Medaille „Marie-Juchacz-Plakette“ wurde zugleich der großen Sozialreformerin und AWO-Gründerin Respekt gezollt. Neumenn. Preisträgern von 1972, war von der Bedeutung des Vereins überzeugt: „Wir haben vieles erreicht, wir haben für die Jugend etwas geschaffen, aber insbesondere auch für die Alten.“