Tegel – Dem eindrucksvollen Backsteinbau ist nicht anzusehen, dass er eigentlich ein Relikt des Ersten Weltkriegs ist, dessen Zweck damals der Beitrag zur Deckung des ungeheuren Bedarfs an Munition war.
Im „Haßgesang gegen England“ von Ernst Lissauer, dem populärsten der unzähligen in der ersten Euphorie zusammengeschusterten Kriegsgedichte, hieß es: „Wir kämpfen den Kampf mit Bronze und Stahl“. Und tatsächlich entwickelte sich der militärische Konflikt, der durch das tödliche Attentat im Juni 1914 auf den österreichischen Thronfolger und seine Gattin ausgelöst wurde, schon bald zu einer gigantischen Materialschlacht mit neun Millionen Gefallenen.
Bereits wenige Wochen vor Kriegsbeginn hatte Kaiser Wilhelm II. bei einer Beratung mit Größen aus Politik und Wirtschaft die Bestätigung vom Repräsentanten der Rüstungsindustrie Gustav Krupp von Bohlen und Halbach erhalten, diese sei selbst bei einem Mehrfrontenkrieg in der Lage, ausreichend Material zu liefern. Allerdings dauerten die zermürbenden Kämpfe doch deutlich länger als anfangs vermutet.
Auch die Firma Borsig, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum zweitgrößten Hersteller von Lokomotiven der Welt entwickelt hatte, erweiterte nun die Produktion auf Artilleriegeschosse, Torpedo- und Kanonenrohre. Dafür wurden 1916 neue Gebäude auf dem Firmengelände errichtet. Die Entwürfe stammten von der A. Borsig Bauabteilung und passten sich dem repräsentativen Stil des Tegeler Firmenareals an, das von den Architekten Konrad Reimer und Friedrich Körte vorgegeben wurde. Eines davon war der 100 Meter lange, 25 Meter breite und über 11 Meter hohe Backsteinbau, der heute noch Kanonenhalle heißt. Seitlich sorgten 60 Fenster für helle Arbeitsplätze. Da ein Großteil der Männer rekrutiert wurde, waren viele Frauen in den Munitionsfabriken tätig.
Die schon ein Jahrhundert zuvor erfolgreiche Aktion „Gold gab ich für Eisen“ erlebte ihre Wiederauferstehung. 1813 hatten die Menschen ihren Goldschmuck gegen billige Imitate aus Eisen getauscht, um den Krieg gegen Napoleon im Jahr 1813 mitzufinanzieren. Diese Idee griff man nun wieder auf. Es folgte zudem ein Aufruf zur Spende von Hausrat aus Zink oder Messing. Gegen Ende des Kriegs, als Metall immer knapper wurde, schmolz man schließlich rund die Hälfte aller Kirchenglocken für die Waffenproduktion ein.
Den Ersten Weltkrieg hatte das Borsig-Werksgelände noch gut überstanden, zerstört wurde es erst bei den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg. Die Kanonenhalle lag in der Folgezeit lange brach – Dach und Mauerwerk wurden mit den Jahren baufällig. 2009 erwarb die Engel & Rothe Immobilienverwaltungsgesellschaft die marode Halle, um sie wieder nutzbar zu machen. Die aufwendige Sanierung beinhaltete auch den Einbau einer energieeffizienten Fußbodenheizung. Das Resultat überzeugte 2010 auch das Bezirksamt bei der Vergabe des Reinickendorfer Bauherrenpreises, der seit 1992 alle zwei Jahre verliehen wird.
Inzwischen residiert dort die Firma Nostalgic-Art, die mit Reklamenachdrucken vergangener Jahrzehnte auf Blechschildern und -dosen großen Erfolg hat. Mit den ursprünglich dort hergestellten martialischen Erzeugnissen haben die farbenfrohen Produkte glücklicherweise nichts mehr gemein.




 
				 
											

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