Es ist Samstag, 8 Uhr morgens. Nicht alle Mitglieder der Segler-Vereinigung Tegel (SVT) sind vollends ausgeschlafen, als sie sich wie bei einem Appell die kurze Ansprache des Hafenmeisters zu diesem „Arbeitsdienst“ anhören. „Abslippen“ ist das Wort der frühen Stunde. Das löst bei vielen sogleich freudige Erwartung auf die kommende Segelsaison aus und auch etwas Sorge, ob alles gut geht beim Zuwasserlassen ihrer Boote. Darunter leichte Jollenkreuzer, aber auch ein mächtiges Boot mit einem Gewicht von sieben Tonnen.
Ein fester Dienstplan teilt die 68 erschienenen Mitglieder in verschiedene Arbeitsbereiche ein. Viele sollen an den Fahrgestellen arbeiten, die unter die Böcke mit den Booten geschraubt werden. So können die Segelboote auf Rädern mit einem altertümlichen Traktor, der Lärm, Gestank und Kraft entfaltet, unter den Kran gezogen werden. Dort werden sie an Gurten angehoben und auf einer Lore abgesetzt. Diese fährt auf Schienen und von einem Drahtseil gehalten zum Hafen hinunter, wo sie auf einer Rampe abwärts fahrend das Boot im Wasser aufschwimmen lässt.
Mitten im 1. Weltkrieg wurde die „Kleinsegler-Vereinigung“ 1917 gegründet. Seit 1920 hieß er dann „Segler-Vereinigung Tegel“. Kurz vorher wurde von der Familie Heinz das bis jetzt genutzte Grundstück gepachtet. Familie Heinz entstammt der berühmten Humboldt-Familie und wohnt weiterhin in dem nahen Schloss. In der offiziellen Chronik des Vereins zum 100-jährigen Bestehen heißt es zu dem Gelände, dass dort früher „in landschaftlich schöner, waldreicher Lage Wilhelm und Alexander Humboldt ihre Kindheit verbrachten“. Das Vereinsleben wurde zwischen Jungmitgliedern und unverheirateten Mitgliedern mit „Richtlinien für das geordnete Vergnügen“ in die richtigen Bahnen gelenkt, so vermerkt es die Chronik ausdrücklich.
Streng der Reihe nach ins Wasser
Auch heute ist alles ordentlich geregelt bei der SVT. Tobias Trotzer hat seine Befähigung nachgewiesen, mit dem alten Deutz-Trecker von 1955 umgehen zu können. Mit stoischer Ruhe schaut er von seinem Traktorsitz auf das Gewusel der Mitglieder herab, die es gar nicht erwarten können, dass ihr Boot endlich an die Reihe kommt, ins Wasser geschubst zu werden. Aber es geht streng der Reihe nach und diese wird auf einer Tafel angezeigt. Diskutiert wird trotzdem viel. Mancher kommt vor lauter Reden kaum zum Arbeiten.

Das Boot des 1. Vorsitzenden der SVT, Toni Reiff, ist schon im Wasser. Seit 2019 übt er diese ehrenamtliche Arbeit aus, die viele Stunden in der Woche beansprucht. Eigentlich längst im Ruhestand, kann er immer noch nicht ganz von seinem Beruf lassen. Ein bisschen unterrichtet er weiterhin als Mathematiklehrer an einem Gymnasium. Viele Jahre hat er die Mathe-Aufgaben für das Zentralabitur in Berlin mit entworfen. Die andere Zeit widmet er den 133 Mitgliedern der SVT und seinem Boot. Seine Frau Sylke Reiff-Peters ist auch im Vorstand der SVT.
Auf die Frage, ob dem 1. Vorsitzenden seine Aufgabe Spaß mache, muss er überraschend lange überlegen. Dann kommt es ganz dezidiert: „Wenn die Mitglieder zufrieden sind, dann bin ich es auch.“ Dazu lächelt er verschmitzt. Miriam Duckes Boot steht noch aufgedockt an Land. Sie ist seit 13 Jahren im Verein. Sie wollte unbedingt an die Malche, eine Ausbuchtung ganz im Norden des Tegeler Sees. Sie hatte sich bei den Segelvereinen rund um die Malche umgesehen, „aber hier waren sie am sympathischsten“.
Ihr Boot heiß „Nike“ nach der Siegesgöttin. Ducke hat es nach der ersten Club-Regatta, an der sie teilgenommen hat, so benannt, da sie den ersten Platz ersegeln konnte. Das sei allerdings danach „nie wieder“ vorgekommen. Auch Boote können sich offensichtlich auf ihrem Ruhm ausruhen. Angela Jörk und ihr Mann Thomas schmeißen die Vereinsgaststätte, die bei der SVT „Ökonomie“ heißt. Seit 2018 sind sie in der Küche und hinter dem Tresen. Heute haben Sie 60 Portionen Kohlrouladeneintopf gekocht, die gut weggegangen sind. Abslippen macht hungrig. Von der SVT aus bieten sie auch ihr Catering „Angelas feinste Hausmannskost & Partyservice“ an.
Ein Boot nach dem anderen strebt auf der Lore von der Seilwinde kontrolliert den leicht abschüssigen Schienenstrang dem Wasser zu. Langsam füllt sich der Hafen, der etwa 60 Liegeplätze hat. Auf dem Weg zum Wasser kreuzt die Lore auch einen Fuß- und Radweg. Er ist sorgfältig abgesperrt und Clubmitglieder bitten Fußgänger und Radfahrer um Geduld, wenn gerade geslippt wird. Die meisten haben Verständnis für die kleine Verzögerung und schauen neugierig den Booten nach, wie sie im Wasser eintauchen.
Dann endlich ist Feierabend. Morgen, am Sonntag, soll es mit der anderen Hälfte der noch an Land liegenden Boote weitergehen. Alle sind zufrieden, dass der Tag ohne Unfälle verlaufen ist. Noch scheint die Frühlingssonne auf die Club-Terrasse mit Blick auf den Tegeler See. Der Verein gibt ein Bier aus. Der muntere Schwatz wird allerdings von ungläubigem Staunen unterbrochen, als eine Yacht wieder aus dem Wasser gezogen wird. „Hast du schon genug von der Saison?“, wird dem Eigner zugerufen, dem aber gar nicht zum Scherzen zumute ist. Sein Schiff war nur wenige Stunden im ersehnten Nass, hatte aber so viel Wasser gezogen, dass es schnell wieder rausgezogen werden musste. Nicht jeder Saisonanfang ist unbeschwert.
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