Tegel – Das waren unruhige Tage für die Volkshochschule (VHS) von Reinickendorf. Zunächst wollte das Bezirksamt keine neuen Honorarverträge für die freiberuflich arbeitenden Dozentinnen und Dozenten der VHS für den kommenden Herbst abschließen. Ein Gerichtsurteil hatte die bisherige Form der Beschäftigung für nicht rechtens erklärt. Das hätte das gewohnte und beliebte Programm der hiesigen VHS in dem bekannten Umfang unmöglich gemacht. Vergangene Woche kam dann die Kehrtwende vom Bezirksamt. Bildungsstadtrat Harald Muschner (CDU) verkündete, dass – trotz der rechtlichen Unsicherheit – Verträge für die freiberuflich Beschäftigten für den Herbst eingegangen werden.
Dozentinnen in Existenznot
Am Ausgang der VHS „Am Borsigturm“ verabschiedet sich Iris Wegner herzlich von einer Kollegin. Später bei einer Tasse Kaffee wird Wegner erzählen, dass ihre Kollegin als Muttersprachlerin seit mehr als 30 Jahren in Reinickendorf mehr oder weniger vollberuflich Spanischunterricht an der VHS gebe. Eine Nicht-Verlängerung ihres freien Mitarbeitervertrages hätte sie in die Arbeitslosigkeit getrieben. Auch Wegner wäre es so ergangen. Sie arbeitet seit 2016 im gleichen Anstellungsverhältnis als Deutschlehrerin für die VHS. Zudem ist sie „Kursleitenden-Vertretung VHS Reinickendorf“. Das heißt, sie vertritt die Interessen ihrer Kolleginnen und Kollegen gegenüber dem Arbeitgeber, dem Bezirk. Genug Anlass dafür gab es in den vergangenen Wochen.
Gerichtsurteil stellt Verträge infrage
Bereits 2022 urteilte das Bundessozialgericht, dass der freie Mitarbeitervertrag einer Musiklehrerin in der baden-württembergischen Kleinstadt Herrenberg nicht gesetzeskonform sei. Es handele sich bei dem Arbeitsverhältnis um eine Scheinselbständigkeit, die in Deutschland zum Schutz der Arbeitenden nicht zulässig ist. Seitdem zieht dieses sogenannte „Herrenberg-Urteil“ in Deutschland seine Kreise. Kürzlich ist es mit voller Wucht in Berlin angekommen. Auch Reinickendorf ist davon betroffen. Die 256 freien Dozentinnen und Dozenten an der Volkshochschule von Reinickendorf hatten nur noch Verträge für die laufende Sommersaison, die am 2. August beendet ist.
Bezirksamt ändert Kurs
Nachdem es zunächst hieß, dass keine neuen Verträge ausgegeben werden, teilte Stadtrat Muschner der RAZ mit, der Bezirk schließe nunmehr „zunächst weiter die notwendigen Honorarverträge in der Musikschule, Volkshochschule und Jugendkunstschule ab“, aber der Berliner Senat sei „aufgefordert, die Rechtslage zu prüfen und Lösungsoptionen zu finden“. Andere Bezirke gingen sofort auf Empfehlung des Senats das bestehende Rechtsrisiko ein und unterschrieben Verträge ohne Verzögerung für die Herbstsaison. Der RAZ liegt ein Schreiben vom 29. Mai von dem Stadtrat des Bezirks Tempelhof-Schöneberg „an die Leitungskräfte in Musik- und Volkshochschule“ vor. Er schreibt: „Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg schließt weiter die notwendigen Honorarverträge ab, um den Betrieb in allen Einrichtungen aufrechtzuerhalten“. Dieser Stadtrat ist in Reinickendorf kein Unbekannter. Es ist Tobias Dollase, der bis 2021 hier Stadtrat war und seitdem in Tempelhof-Schöneberg parteilos für die CDU in ähnlicher Funktion arbeitet. Jetzt folgt das Bezirksamt Reinickendorf dem Beispiel von Dollase. Wegner hatte sich gewünscht, dass der Bezirk sofort beim Aufkommen der Rechtsunsicherheit ein solch starkes Signal wie Dollase gesendet hätte. Das sei „eine Wertschätzung unserer Arbeit“ gewesen. Sie hatte nicht den Eindruck, dass das Bezirksamt „hinter uns stand“.
Politische Abwägungen und Forderungen
Der SPD-Abgeordnete Sven Meyer aus Reinickendorf räumte ein, dass „die Situation schwierig ist“ zwischen der Rechtsabwägung von Scheinselbständigkeit und der Gefahr, dass die Volkshochschule im Herbst „dichtmacht“ und dabei „Strukturen kaputtgehen“, die „man so nicht wieder hinkriegt“. Trotz der Gemengelage forderte Meyer sofort, dass das Bezirksamt Verträge für die nächste VHS-Saison ermögliche, auch wenn es dabei ein „gewisses Risiko“ einzugehen hätte. Das müsse er bei anderer Gelegenheit in der Politik auch tun. In einer früheren Pressemitteilung vom Bezirksamt hieß es jedoch zunächst, dass „erhebliche Risiken in Bezug auf eine Strafbarkeit und Regresspflicht der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ bei denen gesehen werde, die in der jetzigen Situation „Honorarverträge unterschreiben“.
„Teilstreckenerfolg“ nach Protesten
Es geht in erster Linie um Nachzahlungen an Sozialversicherungen, was auch den Arbeitgeber treffen würde. Jetzt laufen Verhandlungen mit der Deutschen Rentenversicherung, die eine endgültige Lösung bringen soll. Wegner sieht das Abschließen von Verträgen für den Herbst als „Teilstreckenerfolg“ und führt diesen auch darauf zurück, dass so viele Proteste von Kursleitenden und Teilnehmenden beim Bezirksamt eingingen. Ihre Chefin, die VHS-Leiterin Stephanie Iffert, lobte sie ausdrücklich für ihren Einsatz.