Wenn Motive nicht stillstehen

Tegel – Katrin Merle, etablierte Illustratorin und Künstlerin aus Reinickendorf öffnet die Tür ihres Ateliers im Kunstzentrum Tegel-Süd. Die Luft riecht nach Farbe. Auf dem Tisch liegen zwei Dutzend unscheinbar wirkende Skizzenbücher, die wieder mal bestätigen, dass ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilt werden sollte. Darin enthalten sind nämlich unzählige liebevolle, lebendige und detaillierte Skizzen, die sie über Jahre hinweg angefertigt hat. Von Straßen, Häusern, Brunnen, Menschen, und Tieren. Ob banal oder imposant, „ich zeichne, was ich vor mir sehe, vor Ort, nicht von Fotos oder aus der Fantasie“, sagt sie und blättert durch eines der Bücher. „Urban Sketching“ heißt das, was Katrin Merle macht, wenn sie neben ihrer beruflichen Tätigkeit Zeit findet. Klar, Zeichnen vor Ort, das gab es schon immer. Relativ neu ist allerdings nicht nur der Begriff, sondern auch, dass hauptsächlich in Gruppen gezeichnet wird.

2007 von dem US-amerikanischen Reportagezeichner und Journalisten Gabriel Campanario ins Leben gerufen, sind die Urban Sketchers heute eine globale Gemeinschaft von Künstlern und Künstlerinnen, die sich über die sozialen Netzwerke organisieren, dort ihre Skizzen veröffentlichen und sich gegenseitig unterstützen. Als gemeinnützige Organisation eingetragen, umfasst die Gemeinschaft mittlerweile über 120.000 Mitglieder in über 60 Ländern. Die Prämisse lautet, „die Welt zu verbinden, eine Skizze nach der anderen.“ Katrin Merle war schon zu ihrer Jugendzeit mit Skizzenbuch und Bleistift unterwegs und hat am liebsten Menschen gezeichnet. Durch ihren Berufsweg, zunächst als Modedesignerin, Werbegrafikerin, und seit 1995 als Illustratorin, hatte sie im Privaten aber schlicht zu wenig Zeit. Doch mehr als das Fehlen der Zeit war es das Fehlen von Mitstreitern, das sie vom Sketchen im urbanen Raum abgehalten hat.

2012 habe sie dann die Urban Sketchers entdeckt, seitdem habe sie den Bleistift nicht mehr aus der Hand gelegt, denn das Vernetzen und Verabreden „macht die Kunst als etwas Einsames, zu etwas Gemeinsamen.“ So ist sie heute Teil des Kerns der „Berliner Gruppe“ und kümmert sich als Administratorin um die Facebook-Seite der deutschsprachigen Gemeinschaft. Sogar im Urlaub war sie schon mit anderen Mitstreitern – „da zeichnet man im Grunde rund um die Uhr.“

Das Faszinierende daran: Beim Durchblättern ihrer Skizzenbücher, die sie „visuelle Tagebücher“ nennt, erinnere sie sich an jedes Detail, auch wenn die Skizzen mehrere Jahre alt seien. Denn wer einen Ort mit allen Sinnen erlebt, sich auf diesen einlässt und sich die Zeit nimmt, dahin zu schauen, wo der Blick im Alltag normalerweise nicht verweilt, der macht eine, wie Merle es nennt, „ganzheitliche Erfahrung“, die in Erinnerung bleibt. Auch aufgrund dessen würde sie ihre Skizzen und Bücher nie verkaufen.

Einer der Grundpfeiler der Urban Sketchers ist es, wahrheitsgetreu zu zeichnen, das heißt nichts dazu zu erfinden. Trotzdem gibt es einen großen Unterschied zwischen dem Skizieren mit Bleistift, Füller und Aquarellfarben und dem Fotografieren: „Wenn man sich mit zwanzig Leuten zum Sketchen trifft, entstehen zwanzig völlig verschiedene Eindrücke des selben Ortes, denn alle haben ihre eigenen Stile, wie eine Handschrift.“ Manche seien sehr detailgetreu in ihren Zeichnungen, andere eher abstrakt und mehr darauf bedacht, die Stimmung festzuhalten.

Aber um Mitglied zu werden, müssen keine besonderen Fähigkeiten vorhanden sein, jeder kann mitmachen – es gibt kein richtig oder falsch. Katrin Merle kennt mittlerweile viele Urban Sketchers aus ganz Deutschland, diese kommen am ersten Septemberwochenende alle in Berlin zusammen – über tausend Sketcher werden erwartet – zum gemeinsamen Zeichnen an verschiedenen Orten der Stadt. Im Kulturforum Berlin können dann am 3. September zwischen 14 Uhr und 17 Uhr die entstandenen Werke bewundert werden.

mfb

Eine kleine Auswahl der Sketches von Katrin Merle Foto: mfb

Interessierte können an einem der Kurse von Katrin Merle teilnehmen, die sie auf ihrer Website kurse.katrinmerle.de ankündigt.

Weitere Infos zu den „Urban Sketchers Berlin“ unter:

Kontakt:

urbansketcher@gmail.com

Facebook:

Urban Sketchers Berlin

Instagram: berlinusk

Blog: berlinusk.org

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.