Wer an der Bushaltestelle Freie Scholle aussteigt, wird gleich von einem bunten Buddy Bär begrüßt – mit dem bezeichnenden Titel „Mein lieber Scholli“. Es lohnt sich, einen genaueren Blick zu riskieren, denn ihm ist die Geschichte der gleichnamigen Siedlung auf den Leib geschrieben. Auf der Rückseite lässt sich entdecken, dass ihm der Gründer Gustav Lilienthal in Form einer Illustration buchstäblich im Nacken sitzt.
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Die Freie Scholle und ihr visionärer Gründer
130 Jahre hat die Freie Scholle inzwischen auf dem Buckel, doch die dahinterstehende Idee klingt noch immer modern. Das Zentralblatt der Bauverwaltung stellte das Projekt 1907 vor als „eine gemeinnützige Vereinigung, welche den Gedanken zu verwirklichen sich vorgesetzt hat, Einfamilienhäuser mit Garten für weniger Begüterte und Unbemittelte herzustellen und die Häuser in Erbpacht an die Mitglieder zu vergeben.“ Das Heft spricht von einem „Baugelände von etwa 7,5 ha Größe, auf welchem bereits 20 Doppelhäuser für je zwei Familien errichtet und in Gebrauch genommen sind.“ Es ist die Rede von acht weiteren inzwischen bezugsfertigen Häusern: „In den nächsten Jahren soll diese Zahl um 100 bis 140 vermehrt werden.“
Ein Preis von 100 Mark pro Genossenschaftsanteil klingt für heutige Ohren recht niedrig – zusätzlich „legt die Genossenschaft den Mitgliedern noch eine Sparpflicht von wöchentlich 30 Pf. auf.“ Ein durchschnittlicher deutscher Monatslohn lag in jener Zeit jedoch bei rund 80 Reichsmark. „Das Haus enthält zwei zweifenstrige Zimmer, Küche, Kammer und einen kleinen Bodenraum.“ Der Wert einschließlich des Gartens mit einer Größe von 450 qm wird mit 5000 Mark beziffert.
Gustav Lilienthal: Erfinder mit Weitblick
Die Siedlung wurde 1895 von Gustav Lilienthal, dem jüngeren Bruder des Flugpioniers Otto Lilienthal, gegründet. Der vielseitig interessierte Erfinder zeigte auch bei diesem Projekt sein untrügliches Gespür für Zukunftsweisendes. Zur Welt kam Gustav am 9. Oktober 1849 in Anklam, das damals in der preußischen Provinz Pommern lag. Nachdem er bereits mit elf Jahren seinen Vater verlor, griffen ihm Verwandte unter die Arme und ermöglichten ein Studium an der Berliner Gewerbeakademie.
Mit seinem Bruder teilte er die Begeisterung für ein Thema, das buchstäblich in der Luft lag: das Fliegen. In einem Brief an seine Frau Anna schreibt er im Februar 1889 über seine aktuelle Lektüre: „Brehms Leben der Vögel ist vielfach interessant, leider das Fliegen nicht genug beobachtet. Ich glaube, das Fliegen wird bald erfunden.“ Selbst als Otto nach einem Absturz mit einem Prototypen im August 1896 ums Leben kam, ließ ihn die Faszination für dieses Thema nie ganz los. Doch auch anderen Gebieten galt seine Neugier.
Als Geschäftsmänner waren beide Lilienthal-Brüder nie wirklich erfolgreich. Gustavs Versuch, mit einem von ihm entwickelten Steinbaukasten Geld zu machen, erwies sich als Flop. Die Idee zu dem Spielzeug und die Maschinen zur Herstellung verkaufte er an einen Unternehmer, der das Produkt unter dem Namen „Anker-Steinbaukasten“ zum Verkaufsschlager machte.
Revolutionäre Ideen
Auch seine nächste Spielzeug-Innovation, die er sich 1888 patentieren ließ, machte Lilienthal nicht reich, obwohl sie sich bis heute bewährt hat: Auf der Grundidee der gleichmäßig gelochten Leisten in verschiedener Länge, die in unzähligen Kombinationen zusammengeschraubt werden können, basieren heute noch viele Baukästen. Aber nicht allein fürs Kinderzimmer entwickelte der Erfinder neue Fertigungsmethoden – wie etwa leichtere Zement-Hohlbausteine und die von ihm patentierte Terrast-Decke, eine Drahtgeflechtmatte, die den Einbau von Zimmerdecken erleichterte.
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Architektur mit sozialem Anspruch
Auch politisch war Lilienthal aufgeschlossen für revolutionäre Ideen. Er war Mitglied des Bundes der Deutschen Bodenreformer, der dafür eintrat, „dass der Boden, die Grundlage aller nationalen Existenz, unter ein Recht gestellt werde, das seinen Gebrauch als Werk- und Wohnstätte befördert, das jeden Missbrauch mit ihm ausschließt, und dass die Wertsteigerung, die er ohne die Arbeit des Einzelnen erhält, möglichst dem Volksganzen nutzbar macht“.
Für die Obstbaukolonie Eden nahe Oranienburg, die sich dem Ziel einer vollständig vegetarischen Ernährung verschrieben hatte, entwarf Lilienthal einige Häuser, bei deren Konstruktion auch seine Hohlbausteine zum Einsatz kamen. Bei der Genossenschaft Freie Scholle stand dagegen das bezahlbare Wohnen im Vordergrund. Mit der Eingemeindung der Randbezirke zu Großberlin gehörte die Siedlung ab 1920 zur Hauptstadt und wuchs wegen des hohen Bedarfs an Wohnungen. Die fortschrittlichen Ideen des Architekten Bruno Traut, der einige Häuser für die Genossenschaft entwarf, passten perfekt zum Konzept. Er war ein Freund der Moderne, dem Ästhetik aber nicht über alles ging: „Erstens: An der Spitze aller Forderungen an einen Bau steht die bestmögliche Benutzbarkeit. Zweitens: Das verwendete Material und die verwendete Konstruktion muss sich völlig der ersten These unterordnen.“
Bruno Taut: Farbe für die Architektur
Im Mai 1880 im ostpreußischen Königsberg als Kaufmannssohn zur Welt gekommen, arbeitete er in Hamburg, Berlin und Stuttgart mit angesehenen Architekten zusammen, um schließlich in Berlin mit einem Kollegen ein eigenes Büro zu gründen: Taut & Hoffmann. Das Unternehmen wuchs rasch und in der Zeit, als Brunos jüngerer Bruder Max mit einstieg, kam aus Magdeburg das Angebot, eine komplette Siedlung nach englischem Vorbild zu entwickeln. In der Presse warb Taut mit dem Slogan „Aufruf zum farbigen Bauen“ für mehr Mut in der Architektur. Die bunten Außenfassaden in der Gartenstadt Falkenberg in Treptow-Köpenick brachten ihr den Spitznamen Tuschkastensiedlung ein. Ganz so bunt ist die Freie Scholle nie geworden, obwohl auch hier die leuchtenden Farben einiger Straßenzüge ins Auge stechen.
Nach dem Krieg behalf man sich zunächst mit einem grauen Anstrich; bei der Renovierung wurde Rücksicht auf den Denkmalschutz genommen, so dass einige Häuser wieder in Gelb erstrahlen. Im Wedding entstand zudem die Siedlung Schillerpark nach Plänen von Taut & Hoffmann. Der Erste Weltkrieg führte zur Auflösung des Architekturbüros, weil Franz Hoffmann Kriegsdienst leistete und Taut sich um den Bau einer Pulverfabrik kümmern sollte. Nachdem ihm während der NS-Diktatur „Kulturbolschewismus“ vorgeworfen wurde, blieb ihm nur, Deutschland zu verlassen. Von der Schweiz wanderte er zunächst nach Japan aus, bekam dort allerdings nur einen einzigen Auftrag und musste sich notgedrungen aufs Kunsthandwerk verlegen. Da kam ihm 1936 das Angebot einer Professur in Istanbul sehr gelegen. Als er zwei Jahre später starb, war er dort so hoch angesehen, dass er als einziger Nicht-Muslim auf dem Edirnekapi-Ehrenfriedhof begraben wurde. Das Berliner Stadtbild hat er vor allem mit seinen Großsiedlungen in Britz und Zehlendorf nachhaltig geprägt.
SPD-Prominenz im Moorweg
Der wohl prominenteste Bewohner der Freien Scholle, dessen Haus im Moorweg 10 an einer Plakette auszumachen ist, war Franz Neumann. Ab 1946 war er zwölf Jahre lang Vorsitzender der Berliner SPD. Er starb 1974 und wurde auf dem Friedhof „Am Nordgraben“ beerdigt. Nach ihm ist auch die U-Bahnstation am Schäfersee benannt.
Eine weitere SPD-Politikerin, die hier wohnte, war Ilse Reichel-Koß, ehemalige Senatorin für Familie, Jugend und Sport. Dieses Amt bekleidete die geborene Weddingerin ein Jahrzehnt lang von 1971 an. Ihre innovativsten Projekte waren das erste Frauenhaus in Deutschland und der erste Abenteuerspielplatz West-Berlins. Sie verstarb im Dezember 1993. Drei Jahre später benannte sich der Kinderbauernhof in Groß-Ziethen nach ihr mit der Begründung: „Wir haben viel von ihr gelernt, vor allem Offenheit und Verständnis für die Meinung anderer. Sie plädierte auch dafür, niemals jemanden auszugrenzen.“ Ihre zupackende Art passte gut in das Wohnkonzept der Scholle, die schon von Beginn an auf eine Nachbarschaft mit regem Austausch setzte. Dafür sorgt bis heute ein ehrenamtliches Gremium, das auch das jeden Spätsommer stattfindende Schollenfest organisiert.
Nur wenige Schritte vom eingangs erwähnten Buddy Bären steht ein Findling, den „Die dankbare Genossenschaft“ 1945 zur Erinnerung an ihren 1933 verstorbenen Gründer Gustav Lillienthal aufstellen ließ.
Egidy: Namenspate für die erste Straße
Die äußerst populäre Gedenkschrift „Ernste Gedanken“ von Christoph Moritz von Egidy aus dem Jahr 1890 beeindruckte auch die Lilienthal-Brüder und hatte wohl einen gewissen Einfluss auf Gustavs Entscheidung zur Gründung der Freien Scholle. Der Offizier und Autor Egidy betonte „dass die Gebote, die uns zum Helfen anregen, die Gebote des Christentums sind“. Er war der festen Überzeugung, dass Belehrung weniger wirksam ist als das Vorleben des Gepredigten – daher machte er sich für eine Erneuerung der protestantischen Kirche mit Rückbesinnung auf die ursprünglichen christlichen Werte stark. Nach dem Pazifisten ist auch jene Straße benannt, an der die ersten Bauten der Genossenschaft entstanden.
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„Berliner Schnauze“: Ministerin Marie Schlei
Eine prominente Bewohnerin, nach der sogar ein Platz in der Freien Scholle benannt wurde, war Marie Schlei. Fünf Jahre lang war sie Schulrätin in Reinickendorf, bevor sie sich vollmundig für politische Ämter bewarb: „Ick bin Helmut Schmidts Berliner Schnauze.“ Der Bundeskanzler machte die gradlinige Politikerin aus Berlin 1976 zur Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ihre teils schnoddrige Art stieß nicht immer auf Gegenliebe. Bereits nach zwei Jahren, in denen sie sich bei der Entwicklungshilfe besonders für die Lage der Frauen vor Ort stark machte, verlor sie ihr Amt wieder. In einem Interview sprach Schlei später von überkommenen Männerbündnissen „mit ihrer bekotzten Nadelstreifenmentalität“. Im Alter von 63 Jahren erlag sie 1983 einem Krebsleiden. An ihrem letzten Wohnort im Allmendeweg 112 erinnert eine Gedenktafel an die streitbare Politikerin. Nach der Scheidung war sie mit ihren Kindern dorthin gezogen. Zuvor hatte Schlei bereits mit ihrem Mann in einem anderen Haus der Freien Scholle im Moränenweg gelebt.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Beitrag aus dem neuen RAZ Magazin (Ausgabe 01/25).
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