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„Häuser sind für mich immer Skulpturen“

Georg Heinrichs war der letzte Überlebende des Architekten-Trios, das das Konzept fürs Märkische Viertel entwickelt hat. Sein Kollege Werner Düttmann starb bereits 1983 mit 61 und Hans Christian Müller 2010 mit 88. Heinrichs brachte es auf stolze 94 Jahre, obwohl er ein starker Raucher war. Sein Tod am 20. Dezember 2020 wurde erst im Januar bekannt.

Schon sein aus Russland eingewanderter Vater arbeitete als Architekt. Georg wurde 1926 in Berlin geboren. Die Familie lebte erst in Kudamm-Nähe und zog dann in die von Bruno Taut um den U-Bahnhof Onkel Toms Hütte kurz zuvor errichtete Waldsiedlung in Zehlendorf. Die Wände der neuen Wohnung strich der Vater ganz im Sinne des Baustils in kräftigen Farben. Ein jähes Ende hatte die glückliche Kindheit, als die Nazis an die Macht kamen, da die Mutter aus einer jüdischen Familie stammte. Georgs Großeltern wurden 1941 in Estland unter deutscher Besatzung umgebracht. Während sein älterer Bruder als Zwangsarbeiter in einem Lager bei Dessau umkam, gelang ihm kurz vor Kriegsende die Flucht aus einem Arbeitslager im Harz.

Von 1947 bis 1954 studierte Heinrichs Architektur an der Hochschule für bildende Künste in Berlin. Er wollte an den modernen Baustil der 1920er Jahre anknüpfen und prägte das Bild von Westberlin entscheidend mit. Unter anderem sind das Einkaufszentrum „Forum Steglitz“ in der Schloßstraße und die Wohnanlage „Opernviertel“ in der Bismarckstraße nahe der Deutschen Oper von ihm. Weit über die Stadt hinaus erregte der Wohnkomplex in der Schlangenbader Straße in Wilmersdorf Aufmerksamkeit. Ein Autobahntunnel führt unter dem Gebäude hindurch, das für 4000 Bewohner konzipiert wurde.

Das erste Großbauprojekt einer Wohnsiedlung in Westberlin sollte in Reinickendorf realisiert werden. Auf einem Gelände mit Notunterkünften und Gartenlauben in Wittenau entstand das Märkische Viertel. Zwischen 1963 und 1974 wurden knapp 17.000 Wohnungen für über 40.000 Menschen gebaut. 35 deutsche und internationale Architekten widmeten sich der gigantischen Aufgabe. Das Konzept wurde vom besagten Trio Heinrichs, Düttmann und Müller entwickelt.

Doch schon bald wuchs die Kritik an der Trabantenstadt. Für die politische Linke war die Hochhaussiedlung schnell ein Symbol für die Zerstörung der alten Stadtstruktur und die Verdrängung der weniger solventen Mieter aus dem Zentrum. Jugendkriminalität und eine hohe Suizidrate sorgten für negative Schlagzeilen. Obwohl an Schule, Kindertagesstätte, Einkaufsmöglichkeiten und ein Kulturzentrum – das Fontane-Haus – gedacht wurde, erwies sich die Infrastruktur als unzureichend. Durch gezielte Nachbesserung konnte die Mieterzufriedenheit aber im Laufe der Jahre deutlich erhöht werden. Trotz aller Probleme gab es zahlreiche Bewohner, die sich von Anfang an in den komfortablen Neubauwohnungen wohlfühlten. Schließlich waren in den 1960er Jahren voll funktionstüchtige Bäder und Küchen keine Selbstverständlichkeit, und auch die fantastische Aussicht in den oberen Etagen begeisterte viele.

Heinrichs‘ Credo war das Bauen in die Breite. Auch bei Gebäuden mit vielen Stockwerken wollte er nichts Klotziges, keine „blöden Kästen“. Wo es möglich war, sollte das Erdgeschoss durch eine breite Fensterfront einladend wirken. Er forderte „das Horizontale, das heißt das Friedliche.“Boris Dammer

Wohnkomplex Schlangenbader Straße: Die Autobahn führt durch das Gebäude. Foto: bod

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.