RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Stoppt die Pandemie der Einsamkeit!

„Zuerst sind mir die vielen Fliegen aufgefallen. Dann musste ich den Vermieter alarmieren. Kurz darauf wurde mein älterer Nachbar tot aus der Wohnung getragen.“ So erinnert sich die Nordberlinerin Elke Schilling an ihr traumatisches Erlebnis in Sachen Einsamkeit.

Dieser tragische Nachbartod ist kein Einzelfall: Jeder zehnte in unserer ohnehin überalterten Stadt ist von Einsamkeit betroffen, und jährlich sterben rund 300 Berliner – Reinickendorfer anteilmäßig – einsam und unentdeckt in ihren Wohnungen. Doch diese Zahlen stammen aus den Vorjahren. Im aktuellen Jahr – noch dazu in der dunklen Winterhälfte – macht Corona alles schlimmer. Daheimbleib-Empfehlungen, ausbleibende Besuche und Umarmungsverzicht tun ein Übriges. Längst beklagen Experten eine „Pandemie der Einsamkeit“. So bekannten rund 80 Prozent der Teilnehmer einer Forsa-Umfrage im Mai, dass sie der fehlende Kontakt zu Familie und Freunden stark belaste. Die Folgen der Pandemie hätten viele Menschen auf eine psychische Belastungsprobe gestellt, schlussfolgert denn auch die Techniker-Krankenkasse als Auftraggeber besagter Studie.

Zum Glück gibt es aber seit einigen Jahren auch Mut machende Gegenbewegungen im Fuchsbezirk und darüber hinaus. So hat im November 2019 die Berliner CDU-Abgeordnete Emine Demirbüken-Wegner einen sachkundig engagierten „Einsamkeitsgipfel“ organisiert. Als Reinickendorferin mit deutsch-türkischen Wurzeln macht sie sich stark für einen sogenannten Einsamkeitsbeauftragten. Eine andere Aktivistin hat vor gut zwei Jahren das Gesprächs-Angebot „Silbernetz“ gestartet. Es handelt sich um die eingangs zitierte Elke Schilling, die damit eine konstruktive Konsequenz aus ihren Nachbartod-Trauma gezogen hat. Hier können einsame Anrufer über 60 einfach nur am Telefon reden – auch ohne dringende Notfallgründe wie bei Feuerwehr oder Telefonseelsorge. Ebenfalls im Fuchsbezirk ist der Verein „Freunde alter Menschen“ ansässig. Er vermittelt Patenschaften von jungen Helfern mit alten vereinsamten Menschen. Doch neben all diesen institutionalisierten Angeboten sind vor allem Bürgersinn wie Nachbarschaftsgeist – und damit wir alle – gefragt.

Lesen Sie in auch das Interview mit Emine Demirbüken-Wegner zum Thema sowie den unten stehenden Artikel. Über die Freunde alter Menschen wird die RAZ demnächst berichten. du

 

Einsamkeit geht uns alle an!

Isolation ist ein soziales Problem – Gesellschaft und Politik sind gefordert

Bezirk/Wedding – „Keine Frage zu groß. Kein Problem zu klein. Kein Grund, damit allein zu sein“, so wirbt Silbernetz für seine Dienste.“ Doch was heißt das konkret? Dahinter verbirgt sich ein dreistufiges Telefon-Angebot für ältere Menschen in Einsamkeit. Erste Anlaufstelle ist die Hotline. Zweiter Teil sind die ehrenamtlichen Silbernetz-Freunde, die einmal pro Woche anrufen. Den dritten Teil stellt die kiezbezogene Silberinfo dar, denn 30 Prozent aller Menschen ab 60 wissen nicht, was ihr Umfeld an Angeboten für sie bereit hält.

Insgesamt sollen Menschen in der Einsamkeitsfalle die Möglichkeit erhalten, dort wieder herauszukommen. Doch was hat Silbernetz, was beispielsweise die Telefonseelsorge nicht bietet? Laut Gründerin Elke Schilling eine extreme Niedrigschwelligkeit. Um bei Silbernetz anzurufen, braucht man kein lebensgefährdendes Problem, sondern einfach nur das Bedürfnis, jemanden zum Reden zu finden.

Um derartige Dienste anzubieten hat Silbernetz in der Wollankstraße 97 unweit der Bezirksgrenze ein Mini-Callcenter eingerichtet und beschäftigt 24 feste Mitarbeiter, wovon sich 15 die Schichten an der Hotline teilen. Die restlichen Festangestellten tragen die Organisation – beispielsweise von IT bis Spenden einsammeln. Darüber hinaus wirken 120 Ehrenamtliche als Silbernetz-Freunde.

Dass diese Angebote ankommen, belegt die Statistik: Täglich melden sich 100 bis 120 Anrufer mit einer durchschnittlichen Gesprächsdauer von zwölf Minuten. Und die häufigsten Themen? 80 Prozent rufen an, um einfach mal jemanden zum Reden zu haben. Dahinter stehen dann extreme Einsamkeit, Sorgen und Nöte mit Kindern, Mitbewohnern, Gesundheitsprobleme. Die Ungewissheit der Corona-Situation treibt insbesondere Ältere in tiefe Lebensängste. Nicht selten ist die Frage: Werde ich das nochmal normal erleben?

Aber das Virus verändert auch die Zusammensetzung der Anrufer: Plötzlich melden sich Menschen, die vorher ein sehr kontaktreiches Leben hatten. Auch mehr Hochaltrige jenseits der 80. Und der Männer-Anteil ist von zehn auf 30 Prozent gestiegen. Doch was zeichnet ein gutes Gespräch aus? „Wenn es schwer anfängt und es dann gelingt, auch ein Stück Lebensheiterkeit ins Gespräch zu bringen. Das tut sich selten von selbst. Als Schlüsselqualifikationen gefragt sind deshalb Empathie, geduldig zuhören können und die Gabe, mit den Anrufern auf Augenhöhe beziehungsweise auf Ohrenhöhe unterwegs zu sein. Im Rahmen der Gesprächsführung lernen die Silbernetzler aber auch, sich abzugrenzen, falls Anrufer mal übergriffig werden sollten. Generell gilt Anonymität auf beiden Seiten.

Dank 0800er Nummer kostet es nichts für den Anrufer. Zahlen müssen die Betreiber. Unterstützung kommt aber vom Land Berlin, den Job-Centern und freiwilligen Unterstützern, die gern Verstärkung gebrauchen können. Demnächst ist Dienst rund um die Uhr geplant. Dazu findet demnächst ein online-Kongress statt.

du

Silbertelefon

tägl. 8 bis 22Uhr

Tel. 0800/470 80 90

www.silbernetz.org

Inka Thaysen

Ursprünglich beim Radio journalistisch ausgebildet, bin ich seit Ende 2018 für den RAZ Verlag tätig: mit redaktionellen sowie projektkoordinativen Aufgaben für print, online, Social Media und den PR-Bereich.