RAZ. Ein Begriff. Zwei Medien.

Menschen bei einer Verleihung
Verleihung des Ehrenamtspreises an Helfer von Menschen mit Behinderungen durch die Bezirksbürgermeisterin (6.v.l.) und die Behindertenbeauftragte (r.) Foto: du

Blind gleich hilflos? Von wegen!

Unser Autor Harald Dudel beschreibt, wie ein erblindeter Ehrenämtler sowohl sich als auch sehenden Menschen mit Eigen-Initiative, KI & Co. zu helfen weiß

Aufgefallen ist mir Pascal Stolzenberg Ende November bei der Ehrenpreis-Verleihung für Helfer von Menschen mit Behinderungen: Einer der Preisträger war ein Späterblindeter, der offene Technik-Abende für Mitblinde, aber auch für Sehende veranstaltet. 

Ein paar Wochen später habe ich ihn in Heiligensee besucht. Auf den ersten Blick fällt mir auf, dass in seiner dreieinhalb-Zimmer-Wohnung nichts, aber auch wirklich garnichts im Wege steht. Das darf es auch nicht, denn der 36-jährige Hausherr hat nach einem sehr schweren Motorrad-Unfall und anschließendem Koma im Alter von 22 Jahren sein Augenlicht verloren. Es folgten Depression, Trennung der Frau und gähnende Langeweile seit er seine erlernten Berufe nicht mehr ausüben kann.

Dann die Wende: Stolzenberg hat seine Situation akzeptiert, sich aufgerappelt und mit therapeutischer Unterstützung einen Neuanfang gewagt. Seine Ausbildung zum Eisenwaren-Einzelhändler und später noch als Industriemechaniker sind ihm zugute gekommen, da er seitdem mit sinnvoll-unterstützender Technik alles dransetzt, sein eigenes sowie das Leben anderer zu erleichtern. 

Doch was bereitet ihm im sichtlosen Alltag die meisten Probleme? „Nahrung zubereiten und Straßen überqueren“, lauten seine spontanen Antworten.„Wenn plötzlich eine Mülltonne im Weg steht, kann‘s gefährlich werden“. Aber auch die Summe von „Kleinigkeiten“, über die man als Sehender wahrscheinlich nie nachgedacht hat, will gelöst werden. „Beispielsweise gibt es keine Waschmaschinen mehr mit klassischen Drehknauf-Knöpfen. „Aber wie sollen wir Blinden die allgegenwärtigen Touch-Felder bedienen können?“ – Gut, dass Stolzenberg seine Maschine per App fernsteuern kann.

Und was hilft ihm noch dabei, den Alltag ohne Augenlicht zu bewältigen? Beispielsweise eine intelligente „Brille“: Solch ein Konstrukt erkennt Flasche, Ampel, Toilette sowie Waschbecken. Vor allem hilft sie beim Finden von Gegenständen. Und wenn’s problematisch wird, warnt sie „Vorsicht Gegenstand im Weg“. Die eingebaute Minikamera kann außerdem Texte vorlesen, Gesichter, Farben und sogar Geldscheine beim Bezahlen erkennen. Weitere Funktionen lassen sich durch Sprachbefehle aktivieren. 

Vorausgesetzt, man weiß, wie man sie richtig bedient. Und hier ist Stolzenberg in seinem Element: Er steht  jeden zweiten Monatsmittwoch im P.A.N.-Zentrum (Zentrum für Post-Akute Neurorehabilitation) der Fürst-Donnersmarck-Stiftung für Fragen zur Verfügung. Das Besondere: Seine Teilnehmer sind fast immer sehend, haben jedoch durch Schlaganfälle oder schwere Stürze zeitweise die Fähigkeit verloren, koordiniert-artikuliert zu sprechen oder sich zu bewegen. 

Stolzenbergs Engagement wurde übrigens von Anfang an von der Kontaktstelle Pflege-Engagement Reinickendorf unterstützt, die ihn auch für den Reinickendorfer Ehrenpreis vorgeschlagen hat. Derlei offene Technik-Runden wären ja schon an sich eine ganze Menge Aktivität, doch auch sonst ist der Heiligenseer sehr umtriebig. So besucht er regelmäßig das Fitness-Studio in den Borsighallen. Die Trainer stellen ihm schon am Butterfly-Gerät das Gewicht auf Loch zwölf ein. Außerdem ist Pascal vertreten in Handy Communities wie Apfelbaum, plus User-Groups wie Telegraph. 

Zudem „liest“ er sehr viel. Reicht ihm das? „Nö, noch lange nicht“. Er leitet außerdem eine Selbsthilfegruppe für Sehbehinderte, die sich jeden ersten Donnerstag im Selbsthilfezentrum „Reido“ trifft.

Jüngst hat er eine Petition gestartet. Es ging um Rotstift-bedrohte BVG-Dienstleistungen für Blinde und mobilitätseingeschränkte „Menschen, die Hilfe brauchen, um die ÖFFIS zu nutzen und Begleitung anmelden. „Wer kennt nicht das Geräusch, wenn der Busfahrer die Rampe hochklappt, aber alle auf ihre Handys schauen, oder du schnell einen Sitzplatz brauchst, bevor die U-Bahn anfährt. Wenn dann ein Mitarbeiter des VBB-Begleitservices, an dem Du dich festhältst, laut sagt ‚würden Sie für meinen Kunden bitte aufstehen‘, dann bist Du so froh, dass es diesen Service gibt …“

Das hoch Erfreuliche: Es wird diesen Service weiterhin geben, denn die Petition war mit 22.650 Unterschriften erfolgreich!


www.fdst.de/, www.letsenvision.com und www.orcam.de

Hilfen mit KI & Co.

Hilfsmittel, die blinden und sehbehinderten Menschen ein möglichst selbstständiges Leben ermöglichen können:

Die „Envision Glasses“ kann handschriftliche Texte vorlesen sowie detaillierte Bildbeschreibungen der Umgebung geben, Objekte finden und hat eine Video-Anruffunktion. Zudem ist es möglich, per Spracheingabe Fragen zu erkannten Texten oder Szenen zu stellen – zum Beispiel nach dem Preis eines Gerichts oder der Rasse eines Hundes. 

 „WeWalk“ ist ein smarter Blindenstock mit Hinderniserkennung und Navigation. Die Microsoft-App „Seeing AI“ kann Texte vorlesen und Fotos beschreiben. Einige Geräte werden von gesetzlichen Krankenkassen und anderen  Kostenträgern übernommen.

Gruppenabend im P.A.N.-Zentrum

Donnerstagnachmittags am nördlichsten Ende von Frohnau. Das dortige P.A.N.-Zentrum unterstützt die Langzeitrehabilitation nach erworbenen Hirnschädigungen, wie Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma. Ziel ist die Wiedereingliederung in ein selbstständiges Leben. Heute Abend sitzen unter Leitung von Betreuer Daniel Schleher fünf Personen im Besprechungsraum – davon zwei im Rollstuhl. Alle duzen sich. Die ehemalige Diplomatenfrau und Ärztin Petra gibt eingangs Ernährungs-Tipps zu Silizium. Dann hat Pascal Stolzenberg seinen Auftritt. Beispielsweise fragt Matthias, ob er auf seinem Handy alle Updates laden soll? Wie erreicht man es, dass die Kaffeemaschine mitspielt? Wie lassen sich am Fernseher Helligkeit und Programm umschalten? Und welche Bild-Beschreibung ist bei welcher Einschränkung sinnvoll? Warum überhaupt Fernsehen, wenn man blind ist. „Wegen der Hörfassung“, erläutert Pascal.

Insgesamt wird deutlich, wie alle Teilnehmer sich trotz gelegentlicher Sprachstörungen ins Zeug legen, um einen gelungenen Gruppenabend zu gestalten, der sicherlich mehr als reiner Austausch von Techniken ist. 

Da kann sich Betreuer Schleher freuen: „Wir sind sehr froh über das Engagement von Herrn Stolzenberg. Mit seiner freundlichen und aufgeschlossenen Art ermutigt er die Teilnehmenden, sich aktiv einzubringen und von ihren Erfahrungen und Erfolgen zu berichten. Diese gegenseitige Hilfe ist ein wertvoller Beitrag zur Lösung technischer Probleme, aber auch dazu, sich wieder aktiv einzubringen und der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen.“

Harald Dudel